Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
die heutige Ausgabe ist den Folk Songs von Luciano Berio gewidmet.
Die Liedersammlung "Folk Songs" schrieb der italienische Komponist Luciano Berio (1925-2003) 1964 für seine damalige Frau Cathy Berberian in einer Version für Kammerensemble; 1973 erweiterte er sie zur Fassung für Gesang und orchestrale Begleitung mit solistischen Bläsern, Harfe, Schlagzeug und Streichern. "Immer wieder kehre ich zur Volksmusik zurück", erklärte Berio: "Ich möchte mit meinen eigenen Mitteln von diesem Schatz Besitz ergreifen." Amerika, Frankreich, die Auvergne, Sizilien, Sardinien, Italien, Armenien und Aserbaidschan - in den Vorlagen für den Zyklus "Folk Songs" und in seinen acht verschiedenen Sprachen spiegelt sich die multikulturelle Gesellschaft wider, der Berio und Berberian angehörten. Andererseits zielt die Auswahl der Lieder auch auf Kontraste zwischen den jeweils geografischen, stilistischen und expressiven Eigenarten der Gesänge, um das Gestaltungsvermögen der Solistin auszureizen. So gibt es hier ein Nebeneinander von archaisierendem Klagegesang und elegantem Virelai aus dem französischen Mittelalter, von swingendem Gospel, ausgelassenem Trällern und Belcanto. Berio bekannte: „Es ist nicht mein Ziel, die Authentizität eines Volkslieds zu bewahren. Meine Bearbeitungen sind Analysen von Volksliedern, gleichzeitig übermitteln sie den besonderen Charakter dieser Musik, so wie ich sie empfinde.“
Die Herausforderung für die Solistin liegt in den Folk Songs vor allem darin, ganz verschiedene Sprachen mit ihren lokalen Traditionen zu beherrschen. Berio ergänzt: "Der Einsatz der Instrumente soll, ohne den Sinn des Liedes zu zerstören oder zu manipulieren, andeuten und kommentieren, was meinem Empfinden nach jedes einzelne Lied entsprechend seinem kulturellen Hintergrund ursprünglich ausdrücken wollte, etwa den Anlass, zu welchem es gesungen wurde." Die Folk Songs lassen sich in einem erweiterten Sinne als Volkslied-Arrangements verstehen. So basieren die elf Lieder (mit Ausnahme von "La donna ideale" und "Ballo", die Berio 1947 komponierte) auf Volksliedern aus unterschiedlichen Kulturkreisen. Einige von ihnen entnahm der Komponist aus gedruckten Volksliedsammlungen, andere hingegen wurden ihm vorgesungen oder er lernte sie auf Aufnahmen kennen und transkribierte sie nach dem Gehör. Berio hat nicht nur die Liedtexte in ihrer Originalsprache belassen, sondern in den meisten Fällen auch die Liedmelodien ohne große Änderungen übernommen. Die folgende Auflistung gibt eine Übersicht über die Herkunft der verschiedenen Lieder und ihre Quellen:
1. Black is the colour… | USA (englisch)
2. I wonder as I wander… | USA (englisch)
3. Loosin yelav… | Armenien (armenisch)
4. Rossignolet du bois | Frankreich (französisch)
5. A la femminisca | Sizilien (sizilianischer Dialekt)
6. La donna ideale | Italien (ligurischer Dialekt) | Komponist: Berio
7. Ballo | Italien (Altitalienisch, 13. Jh.) | Komponist: Berio
8. Motettu de tristura | Sardinien (sardischer Dialekt)
9. Malurous qu’o uno fenno | Auvergne/Frankreich (Langue d’oc)
10. La fiolaire | Auvergne/Frankreich (Langue d’oc)
11. Azerbiajan Love Song | Aserbaidschan
Das Europakonzert der Berliner Philharmoniker sollte 2022 ursprünglich in Odesa stattfinden. Stattdessen erklang am 1. Mai in der Great Amber-Konzerthalle im lettischen Liepāja ein Programm, das im Zeichen der Solidarität mit der Ukraine und für ein friedliches Miteinander in Europa steht. Bereits seit einigen Jahren hat die Mezzosopranistin Elina Garanca Berios Folk Songs in ihrem Repertoire. Den Mitschnitt aus Lettland mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Kirill Petrenko können Sie im folgenden Link erleben:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler