Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
heute wird es turbulent und humorvoll: Diese Ausgabe ist dem Divertissement von Jacques Ibert gewidmet.
Die Biografie von Jacques Ibert hält die ein oder andere Überraschung parat. Sein Studium finanzierte der Schüler von Gabriel Fauré als Klavierimprovisateur bei Stummfilmaufführungen. 1919 konnte Ibert den begehrten Prix de Rome für sich ergattern. Später war er in der italienischen Hauptstadt Direktor der französischen Akademie. Und in den 1950er Jahren wirkte er als Verwaltungsdirektor der beiden Pariser Opernhäuser. Auch die Werkliste von Ibert liest sich bunt und heterogen: Neben Opern und Orchesterstücken finden sich eine Operette und über 50 Filmmusiken.
In eine gehobene Music Hall entführt uns Iberts Divertissement - eine typisch Pariser Komposition der 1920er Jahre: frech, frivol und "très française". Die sechs Sätze hat Ibert zusammengestellt aus einer 1928 komponierten Schauspiel- bzw. Filmmusik für Eugène Labiches 1851 uraufgeführtem Stück "Un chapeau de paille d’Italie" ("Der italienische Strohhut"). In dieser Eifersuchts- und Verwechslungskomödie ist ein Strohhut Auslöser zahlreicher bizarrer Szenen: Zum Ärger seiner Besitzerin, die sich gerade einem geheimen Schäferstündchen widmet, wird der Hut vom Pferd eines vorbeifahrenden Mannes gefressen, der seinerseits kurz vor der Trauung steht. Damit der Ehemann der bestohlenen Dame keinen Verdacht schöpft, muss der Mann - dicht gefolgt von seiner Braut - alles unternehmen, um einen identischen Hut aufzutreiben. Dabei passiert ihm ein Missgeschick nach dem anderen... - Stilistisch steht Iberts Divertissement in einer Linie mit einigen in Paris uraufgeführten Balletten, die ihre Vorläufer in Igor Strawinskys Petruschka von 1911 und Erik Saties Parade von 1917 haben: 1920 folgte Darius Milhauds "Le bœuf sur le toit", ein Jahr später "Les mariés de la Tour Eiffel", komponiert von fünf Mitgliedern der Groupe des Six, 1924 Francis Poulencs "Les Biches" und 1927 Gabriel Piernés "Impressions de Music Hall".
Zwar ging Ibert nicht so weit wie Erik Satie, der in seinem 1917 entstandenen Ballett „Parade“ u. a. eine Schreibmaschine, Revolverschüsse und Sirenen erklingen ließ. In der surrealen Tradition solcher Bühnenspektakel, die viele Anregungen den Varietés der in Paris angesagten Music Halls verdankten, steht das Divertissement aber unüberhörbar. Ibert hat es für Kammerorchester gesetzt, mit einigen in ihrer Kombination mit den Streichern skurril wirkenden Instrumenten wie Klavier, Celesta, Holzblock, Tamburin oder Trillerpfeife. Nach der "Introduction", die wie eine Miniatur-Ouvertüre zu einer Komischen Oper wirkt, verballhornt Ibert in "Cortège" (eigentlich eine Trauerprozession) Felix Mendelssohn Bartholdys Hochzeitsmarsch aus "Ein Sommernachtstraum". Das "Nocturne" hält nicht seinen anfänglichen Ernst, und die "Valse" liebäugelt ebenso mit Spieldosenmusik wie mit dem weit schwingenden Johann-Strauß-Walzer "An der schönen blauen Donau". "Parade" verweist auf Satie, bevor das "Finale" erst mit Cluster-Akkorden im Klavier die Musikavantgarde auf die Schippe nimmt und dann wildes Treiben in der Zirkus-Manege heraufbeschwört, dessen musikalischem Gemetzel die Trillerpfeife eines Polizisten vergeblich Einhalt zu gebieten versucht.
Am 19. Juni 2020 musizierte das WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Cristian Măcelaru in der Kölner Philharmonie:
Und auch der Vergleichsmitschnitt entstand während der Corona-Pandemie: Die Rückkehr des viel beschäftigten Dirigenten Paavo Järvi zum NDR Elbphilharmonie Orchester war 2020 eigentlich gar nicht geplant. Die zahlreichen Umplanungen aufgrund der Corona-Pandemie machten am 27. November 2020 das Gastdirigat des derzeit wohl gefragtesten Sprosses der berühmten estnischen Dirigentenfamilie möglich:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler