Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
Alexander von Zemlinskys Fantasie in drei Sätzen "Die Seejungfrau" ist mit Sicherheit eine der zauberhaftesten Unterwasserdarstellungen in der Musik, die man sich nur vorstellen kann. Sirenen, Melusinen, Donauweibchen, Loreley, Undine und Ariel - gegen Zemlinskys Seejungfrau sehen sie alle blass aus!
Mit dem Klangapparat eines spätromantischen Riesenorchesters Strauss'scher Manier erschafft der Komponist eine schillernde Welt. Seine Musik sammelt unbändige Energien und gibt sie aberwitzig frei. Gleichzeitig erzeugt die anrührende Melodik - allem voran das Thema der Seejungfrau - eine süße Melancholie. Zemlinskys sinfonische Dichtung hat das Zeug zum Lieblingsstück, und man muss alle beneiden, die es zum ersten Mal hören. Denn diese in Musik gesetzte Geschichte nimmt gefangen und berührt unmittelbar. In drei Sätzen malt Zemlinsky die literarische Vorlage von Hans Christian Andersens "Die kleine Meerjungfrau" nach. Im Gegensatz zu Dvořáks "Wassermann" lässt sich hier allerdings nicht direkt die Handlung ableiten. Vielmehr zeichnet Zemlinsky ein inneres Psychogramm des Geschehens.
Mit dem vollendeten 15. Lebensjahr darf die kleine Seejungfrau erstmals den Meeresgrund verlassen und die Menschenwelt erkunden. Bei der Gelegenheit verliebt sie sich unsterblich in einen Prinzen, den sie bei einem Seesturm vor dem Ertrinken bewahrt. Die Seejungfrau ist nahezu besessen von dem Gedanken, ihr Leben in der Menschenwelt weiterzuführen. Dabei ist ihr Wunsch, eine nur den Menschen zugeeignete "unsterbliche Seele" zu erlangen, ebenso dringend wie ihre Liebe und ihre Sehnsucht nach dem Prinzen. Die unsterbliche Seele wird gewissermaßen zum Symbol eines Zustands vollkommenen Glücks und zur fixen Idee einer besseren Welt. Die Seejungfrau entschließt sich, ein Leben auf der Erde führen zu wollen. Ihre Gestalt lässt sich mit Hilfe eines Zaubertranks, den sie von der Meerhexe erwirbt, dem menschlichen Körperbau anpassen. Ihr Fischschwanz wird in Folge dessen in zwei Beine gespalten, was ihr entsetzliche Qualen bereitet. Jeder Schritt schmerzt wie der Gang auf Messerklingen. Daneben schuldet sie der Hexe für deren Zauberkunst einen Lohn. Die Hexe fordert das Kostbarste, was die Seejungfrau neben ihrer Schönheit besitzt: ihre Stimme. Als stummes Wesen versucht sie nun, den Prinzen für sich zu gewinnen. Doch im Leben des Prinzen ist sie nicht mehr als ein Zaungast. Als der Prinz ein anderes Mädchen heiratet, erreicht die Tragödie ihren Höhepunkt. Denn das ist das Todesurteil für die Seejungfrau. Gilt die Liebe des Prinzen nämlich einer anderen, so sieht es der Zauber vor, dass die Seejungfrau am Hochzeitsmorgen den Tod findet. Sie soll dann als Meeresschaum zurück in ihr ursprüngliches Element gestoßen werden. Entgegen der Verheißung bekommt sie allerdings eine zweite Chance und wird unter die Töchter der Lüfte aufgenommen.
Zemlinsky unterstellt das musikalische Thema der Seejungfrau zahlreichen Transformationen, die die Verwandlungen der Protagonistin ins Bild setzen. Das erste Erklingen des Seejungfrau-Themas setzt der Komponist besonders in Szene. Es setzt, interpretiert von der Solovioline, unvermittelt ein und ist wunderbar lyrisch. Bei dem charakteristischen Spannungsklang, der das Motiv einleitet, handelt es sich um nichts Geringeres als ein Quasi-Zitat des Tristan-Akkords aus Richard Wagners "Tristan und Isolde". Unverkennbar, was Zemlinsky damit sagen will: Es geht um überirdisch romantische Liebe, die im Diesseits keine Vollendung finden kann. Wie bei Dvořáks "Wassermann" ist auch hier schnell klar: Die Geschichte geht nicht gut aus für die Protagonistin.
Zemlinsky selbst leitete am 25. Januar 1905 die Uraufführung im Wiener Musikverein. Allerdings verblasste das Werk neben einer weiteren Uraufführung seines Schwagers, Arnold Schönberg. Im selben Konzert erlebte dessen Dichtung "Pelleas und Melisande" ihre Premiere. Entmutigt lässt Zemlinsky sein dreiteiliges Werk in der Schublade verschwinden. Oder doch nicht ganz: Den ersten Teil vermacht er später Marie Pappenheim, der Librettistin des Operneinakters "Erwartung" von Arnold Schönberg. Die anderen beiden Teile nimmt Zemlinsky bei seiner Flucht vor den Nationalsozialisten 1938 mit über den Atlantik. Erst Anfang der 1980er Jahre stellen Forscher fest, dass die getrennten Partituren zusammen "Die Seejungfrau" bilden.
In einem Brief an Schönberg hat er die Stationen seiner Komposition beschrieben: Der 1. Teil beginnt hörbar "am Meeresgrund". Verkörpert durch die Solovioline, erscheint die Seejungfrau. Ihren Fischschwanz lässt sie von der Meerhexe in zwei Menschenbeine verwandeln. Dafür opfert sie ihre Stimme, kann aber in die "Menschen-Welt" auftauchen. Im 2. Teil ist schillernd der wogende "Sturm" zu hören, außerdem "des Prinzen Errettung" durch die Seejungfrau. Der 3. Teil schildert ihre "Sehnsucht", "des Prinzen Vermählung" mit einer anderen, und das Ende der Seejungfrau als Schaum auf den Kronen der Wellen. Undenkbar, dass diese Musik je wieder von der Bildfläche verschwinden könnte! Dafür ist sie einfach zu schön.
Zwei Mitschnitte empfehle ich Ihnen heute sehr gerne, zunächst das Concertgebouworkest Amsterdam unter der Leitung von Vladimir Jurowski, aufgezeichnet am 28. März 2013:
Zum Vergleich: Das WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Ingo Metzmacher, aufgezeichnet am 13. Januar 2024 in der Kölner Philharmonie:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler
