Suche

Musik in schwierigen Zeiten Ansicht

21.05.2024 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 630

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

"mein nächstes größeres Werk wird ein Cellokonzert sein", erklärte Dmitri Schostakowitsch im Sommer 1959. "Der erste Satz, ein Allegretto im Stil eines heiteren Marsches, ist schon fertig… Ich kann nur sagen, dass ich dieses Konzert schon seit ziemlich langer Zeit plane. Der ursprüngliche Anstoß dazu kam, als ich Sergej Prokofjews Symphonisches Konzert für Violoncello und Orchester hörte, das nicht nur mein Interesse, sondern auch meinen Wunsch weckte, selbst etwas in diesem Genre zu schreiben." Bereits im Oktober fand die Uraufführung dieses Werks statt: mit dem Widmungsträger Mstislaw Rostropowitsch als Solist und den Leningrader Philharmonikern unter Yevgeny Mrawinsky. Unser heutiges Musikstück also: Das Cellokonzert Nr. 1 Es-Dur op. 107.

Einer unserer heutigen Interpreten ist Johannes Moser: "Das erste Cellokonzert von Schostakowitsch habe ich zum ersten Mal an meinem 18. Geburtstag gespielt. Seitdem habe ich es bei für mich wichtigen Momenten immer wieder rausgekramt - zum Beispiel zu meiner Aufnahmeprüfung an der Hochschule oder beim Tschaikowsky-Wettbewerb. Eigentlich hatte ich es bei allen Vorspielen für diverse Dirigenten immer im Programm. So etwas schweißt einfach zusammen, und insofern war es für mich wichtig, dieses Stück einmal aufzunehmen. Im Übrigen liegt es einfach toll in der Hand und lässt sich fantastisch spielen."

Auch wenn das Werk gut in der Hand liegen mag, so ist es für den Solisten durchaus sehr anspruchsvoll. Und das ist kein Wunder: Schließlich hatte Dmitri Schostakowitsch sein erstes Cellokonzert für den Meistercellisten Mstislaw Rostropowitsch geschrieben. Die beiden waren befreundet und hatten mehrfach Schostakowitschs Cellosonate gemeinsam aufgeführt. In nur drei Tagen lernte Rostropowitsch die neue Partitur und konnte sie sogar auswendig. Als er allerdings mit einem Verbesserungsvorschlag für eine Stelle an Schostakowitsch herantrat - so erinnert sich Rostropowitsch -, antwortete der Komponist: "Du bist schlau. Wenn ich das mache, wirst Du der einzige sein, der es spielen kann. Aber, weißt du, ich schreibe für alle."

Ikonisch lässt Schostakowitschin diesem Werk zwei Haupteigenschaften seiner musikalischen Sprache anklingen: seinen sarkastischen Humor - und dazu im Kontrast: eine große, expressive, aufreibende Innerlichkeit. Der Beginn des Konzerts präsentiert seine humorvoll-bissige Seite. Mit den ersten vier Tönen des Solisten bringt der Komponist eine Variante seines eigenen musikalischen Monogramms (die Töne D-S-C-H = Dmitri Schostakowitsch) ins Spiel. Darauf antwortet das Orchester jeweils mit marschartigen und ebenso kauzigen Kommentaren. Der scharfkantige Humor Schostakowitschs lässt dabei immer wieder das im Grunde zutiefst unzufriedene Individuum hinter der "lustigen Verpackung" erkennen.

Ganz anders der zweite Satz. Trauernde, durchaus dissonante Streicher bereiten ein verhaltenes, leises Hornsolo vor - bevor schließlich das Cello seinen ganz eigenen Trauergesang anstimmt. Kein (Selbst-)Mitleid, sondern eine Klage voller Bitterkeit - ohne Licht, ohne verdammte Hoffnung. Aus der stillen Betrübnis heraus bäumt sich der Solist gemeinsam mit dem ganzen Orchester bald immer weiter auf, wehrt sich gegen die Einsicht, machtlos zu sein, sich aus der Nötigung befreiend, gefesselt den eigenen Lebensfilm hilflos mit anschauen zu müssen. Am Ende verbleiben säuselnde, zerbröselnde Klänge des orientierungslosen Individuums,  verkörpert durch den Solopart. Hohe Streicher irren ziellos umher, irgendetwas umspielend; hinzu kommt die Celesta. Das Kinderweinen eines Erwachsenen...

Im dritten Satz, der Cadenza, erlöst sich das Cello als Individuum quasi selbst aus seinem eigenen Dornröschenschlaf; ganz alleine - sich be- und hinterfragend. Höchste Höhen, hauchzart dahin gezupfte Fragezeichen. Langsam kommt man wieder zu sich, lässt sonorere Töne erklingen. Doch später wird das Cello beinahe an sich selbst wahnsinnig, stellt Fragen - und kann sie doch nur exzentrisch beantworten. Dann setzt der vierte Satz übergangslos ein. Das Orchester nimmt die Wut der Solocello-Passagen zunächst auf, bringt aber mehr und mehr virtuose, triumphierende Elemente ins Geschehen ein. So kehrt kurz vor Schluss die prägnante Thematik des Beginns wieder, aber jetzt durch zahlreiche Nebenkommentare ergänzt - quasi der erste Satz durch die Brille anderer Erfahrungen beleuchtet ... Ein Pseudo-Triumph. Kein fröhlicher Tanz, nirgends.  

Zwei Mitschnitte empfehle ich Ihnen heute, zunächst Johannes Moser mit dem hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von Stanisław Skrowaczewski, aufgezeichnet in der Alten Oper Frankfurt am 22. März 2013:

www.youtube.com/watch

Zum Vergleich: Leonard Elschenbroich mit der NDR Radiophilharmonie Hannover unter der Leitung von Marc Albrecht; der Mitschnitt entstand am 20. Mai 2022 im Großen Sendesaal des NDR-Landesfunkhauses Hannover:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd