Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
unsere Reihe "Letzte Werke" wird heute fortgesetzt mit der Sinfonie Nr. 15 A-Dur op. 141 von Dmitri Schostakowitsch.
Mieczysław Weinberg und der 13 Jahre ältere Dmitri Schostakowitsch waren eng befreundet. Gegenseitig haben sie sich auch musikalisch beeinflusst. Und als Schostakowitsch seine 15. Sinfonie vollendet hatte, war es beinahe selbstverständlich, dass Weinberg einer der beiden Pianisten war, die das neue Werk erstmals in einem kleinen Kreis auf zwei Klavieren vorstellten.
Die Fünfzehnte, knapp 20 Jahre nach Stalins Tod entstanden, hat den Schalk nur so im Nacken - allerdings weniger freudig-ausgelassen als vielmehr doppelbödig-resigniert. Wie immer bei Schostakowitschs Musik ist das Humorvolle auch in seiner 15. Sinfonie durch oftmals harsche oder trauerverhangene Klänge gebrochen. Witzig ist sein Einfall, das berühmte Motiv aus Gioachino Rossinis Ouvertüre zu "Wilhelm Tell" durch den ersten Satz spuken zu lassen - allerdings ins Groteske verzerrt. So übermütig, wie das mitunter klingt, hatte der Komponist das Werk auch angekündigt: "Ich möchte eine fröhliche Sinfonie schreiben."
Unter der Hand geriet ihm die 15. Sinfonie aber deutlich düsterer als geplant. Schostakowitsch war zu dieser Zeit bereits schwer krank: Ihn plagte eine chronische Rückenmarksentzündung, außerdem litt er unter einer Lähmung seiner rechten Hand. In der 15. Sinfonie scheint er sein Leben musikalisch Revue passieren zu lassen, und er leugnet nicht, dass seine Lebensumstände im repressiven Sowjetsystem ihn nicht zu einem Menschen werden ließen, der vor Optimismus gesprudelt hätte.
Der Komponist, der an einer schweren Herzerkrankung litt, ahnte wohl, dass die 15. Sinfonie seine letzte sein würde. Der Sohn des Komponisten, der Dirigent Maxim Schostakowitsch, sagte, das Werk behandle "die Probleme des menschlichen Lebens von Anfang bis Ende". Der großteils intime, oft kammermusikalische Charakter mit zahlreichen solistischen Einsätzen (Violoncello, Kontrabass, Flöte, Posaune, Celesta u. a.) unterstreicht die Annahme, dass die Sinfonie eine autobiographische Bilanz darstelle. Zahlreiche Rückgriffe Schostakowitschs auf eigene Werke und Zitate von Themen anderer Komponisten geben darauf eindeutige Hinweise.
Der erste Satz trägt mit Erinnerungen an das eigene Frühwerk ausgesprochen sarkastische Züge, die fünfmalige Einbeziehung des Galopps aus der Ouvertüre zur Oper „Wilhelm Tell“ von Gioacchino Rossini mag zunächst erheitern, doch wirken Isoliertheit und Fremdheit dieser unerwarteten Einwürfe letztlich besonders bedrohlich. Der knappe Kopfsatz ist sparsam instrumentiert und weist zahlreiche Soli auf. Die Exposition lässt die Holzbläser hervortreten, in der Durchführung verschaffen sich die Schlaginstrumente Gehör und beziehen schließlich die Blechbläsergruppe ein. Die gegenüber dem Beginn stark veränderte Reprise endet mit einem abrupten Tuttischlag. Auf diese Weise erinnert Schostakowitsch an eine Welt, die es in dieser Form nicht mehr gibt. Der Komponist selbst nannte diesen Satz einen „Spielzeugladen“, aber der Dirigent Kurt Sanderling gibt zu bedenken, dass es in diesem „Spielzeugladen“ nur seelenlose, tote Spielzeuge gibt, die nur lebendig werden, wenn wie bei Marionetten an den Fäden gezogen wird.
Das düstere Adagio hat Trauermarschcharakter. Hierbei wird der Choral der Blechbläser von einem Zwölftonthema des Solo-Cellos durchkreuzt. Später tritt auch eine Solo-Violine hinzu, und auch die erste Posaune übernimmt solistische Aufgaben. Es gibt Assoziationen vor allem an den ersten Satz der sechsten Sinfonie, und nach einem Höhepunkt wird die Spannung immer weiter abgebaut, bis das Adagio unmittelbar in den dritten Satz übergeht. Dieser dritte Satz gehört zu den kürzesten Schostakowitsch-Scherzi, sparsam instrumentiert wirkt die Musik geradezu skelettiert. Das Hauptthema ist erneut zwölftönig angelegt, hierzu kontrastiert die Festlegung auf gewichtige Fagottquinten.
Ihren Höhepunkt erreicht die letzte Schostakowitsch-Sinfonie in ihrem Finale. Eröffnet wird der Satz durch drei bedeutungsvolle Wagner-Zitate. Die Blechbläser intonieren zunächst das Schicksalsmotiv aus der „Walküre“, der Paukenrhythmus aus der Trauermusik der „Götterdämmerung“ schließt sich an; dem widerstrebend wird das Eröffnungsmotiv aus „Tristan und Isolde“ aufgenommen, das nun unmittelbar in das ruhige Hauptthema des Satzes einmündet. Der Charakter des Seitenthemas ist ebenfalls kaum dramatisch zu nennen, weshalb diese Disposition in den Finalsätzen der Schostakowitsch-Sinfonien keine Parallele kennt. Die dramatische Entwicklung beginnt erst im Mittelteil, einer monumentalen Passacaglia, die mit der „Invasionsepisode“ der „Leningrader Sinfonie“ korrespondiert. Nach dem Zusammenbruch, wenn die Arbeit mit Zwölftonthemen und die Wiederaufnahme von Motiven aus den ersten Sätzen gegenstandslos geworden sind, behalten die Schlaginstrumente das letzte Wort. Der Dirigent Kurt Sanderling fühlte sich bei diesem gespenstischen Abschnitt an die Intensivstation in einem Krankenhaus erinnert, wobei hier das Verlöschen aller Lebensfunktionen angezeigt wird.
Vordergründig trägt die Sinfonie zwar sehr unbeschwerte Züge, doch das ist trügerisch - am Ende tickt die Bewegung wie ein ablaufendes Uhrwerk aus. Unter der Leitung von Maxim Schostakowitsch, dem Sohn des Komponisten, wurde sie am 8. Januar 1972 in Moskau uraufgeführt.
Wie es anschließend weiterging? Schostakowitsch legte die größte Arbeitspause seines Lebens ein und komponierte anderthalb Jahre keine einzige Note mehr. Dafür unternahm er einige Reisen, erhielt offizielle Ehrungen und erfuhr zunehmende internationale Anerkennung. Nach der 15. Sinfonie schrieb er noch zwei Streichquartette, die Michelangelo-Gesänge für Bass und Klavier sowie eine ergreifende Sonate für Viola und Klavier. Nach mehreren Herzinfarkten erlag Dmitri Schostakowitsch am 9. August 1975 einem schweren Krebsleiden.
Hier ein Mitschnitt mit dem Royal Concertgebouw Orchestra unter der Leitung von Bernard Haitink im Concertgebouw Amsterdam aus dem Jahr 2011:
Zum Vergleich eine Kammermusikversion der 15. Sinfonie von Victor Derevianko, aufgezeichnet am 2. Juli 2016 beim Utrecht Festival 2016; es musizieren
Boris Brovtsyn, Jens Peter Maintz, Eldar Nebolsin, Esther Doornink, Paul Jussen und Hans Zonderop:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler