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19.06.2024 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 641

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

ein kleines Juwel der A-cappella-Chorliteratur erwartet Sie heute mit den Trois Chansons von Maurice Ravel: Wer sie einmal gesungen hat, dem bleibt ihr heiterer Klangzauber im Gedächtnis … - und vielleicht auch ein Knoten in der Zunge.

„Ja, ich arbeite, und mit der Sicherheit und Hellsicht eines Verrückten. Aber währenddessen arbeitet der Trübsinn auch, und plötzlich breche ich über meinen ganzen B-Vorzeichen in Tränen aus!“ Am 4. August 1914, vier Tage, nachdem in Frankreich die Sturmglocken den Beginn des Ersten Weltkriegs angezeigt hatten, schrieb Maurice Ravel diese Zeilen an seinen Freund Maurice Delage. Nur wenige Monate später, im Winter 1914/15, schrieb er die Trois Chansons für gemischten Chor auf eigene Texte. Es handelt sich um eine Hommage an die französische Chanson des 16. Jahrhunderts, um Werke einer hochpoetischen Neo-Renaissance. Im Rückzug Ravels auf die romantische Klangpoesie und Stil-Nachempfindung dieser Stücke wird man eine bewusste Abwehr jener dunklen Schatten spüren, die der Kriegsausbruch über den Komponisten gebracht hatte: „Seit vorgestern diese Sturmglocke, diese weinenden Frauen und vor allem der grauenhafte Enthusiasmus der jungen Leute… Sie glauben, ich arbeite nicht mehr? Ich habe nie so viel mit einer verrückteren und heroischeren Wut gearbeitet.“  

Mit Leichtigkeit und Humor erzählt Ravel, der sowohl Text als auch Musik schuf, drei Geschichten, musikalisch an Renaissance-Kompositionen orientiert, inhaltlich Märchenmotive aufgreifend. Im ersten Satz "Nicolette" (quasi eine Schwester von Rotkäppchen), wird ein Mädchen dargestellt, das sich zwar nicht vom Wolf verführen lässt, sich aber auch - schweren Herzens - von einem schönen Jüngling abwendet, um - mit Blick auf goldenen Besitz - zielstrebig einem hässlichen alten Mann in die Arme zu laufen. Ravel weiß musikalisch ebenso dem unbekümmerten Spazieren des Mädchens Gestalt zu geben wie seinem seufzenden Abschied vom Jüngling oder dem japsenden Auftritt des alten Mannes (durch Bass-Vorhalte stimmlich angeschlagen).

Das zweite Chanson ist ein zauberhaft lyrischer Dialog eines Mädchens mit drei Paradiesvögeln, die ihm die Nachricht vom (Kriegs-)Tod seines Geliebten überbringen. Die Solostimmen werden dabei vom summenden Chor wie von einer Streicherbegleitung getragen. In diesem zentralen Stück machen sich die düsteren Schatten der Entstehungszeit bemerkbar.

Der dritte Rundgesang („Ronde“) lässt alle erdenklichen fantastischen und grotesken Gestalten des Waldes von Ormonde auftreten, wofür sich Ravel von Freunden alle möglichen Waldfiguren nennen ließ: Für die Chorsänger:innen nicht zuletzt zungenbrecherische Herausforderungen („diables, diablots, diablotins, des chèvre-pieds, des gnomes, des démons, des loups-garous, des elfes, des myrmidons, …“)! Dabei geht es - im rasend schnellen Tempo des Rundgesangs vorgetragen und für eher träge deutsche Zungen hart an der Grenze des Singbaren - mehr um die Wirkung der Silben als um ihren Gehalt. Das Ganze ist ein großer Spaß im tänzerischen Rhythmus, eine Hommage an die wortmalerischen Chansons des Clement Jannequin und die leicht obszöne Chanson grivoise der französischen Renaissance.

Zu der Komposition Ravels urteilte sein Freund Tristan Klingsor (dem das erste Chanson gewidmet ist): „Ravel hat sein ganzes Herz in diesen Chansons gegeben.  Der große Rechenkünstler des Orchesters behielt die Natürlichkeit eines großen Kindes“. Die märchenhaften Stücke können Ausführende und Publikum gleichermaßen bezaubern.

Unser heutiger  Mitschnitt entstand am 23. Mai 2019 in der Lagerquist Concert Hall in der Pacific Lutheran University, es singt der Pacific Lutheran University Choir of the West unter der Leitung von Richard Nance:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Urlaubsgrüßen von der Nordsee

Matthias Wengler

Beitrag von sd