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14.08.2024 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 666

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

die Klavierkonzerte von Sergej Rachmaninow stehen wesentlich häufiger auf dem Konzertprogramm als seine Sinfonien - daher heute in dieser Reihe die Sinfonie Nr. 2 e-Moll op. 27.

Moskau war kein guter Ort zum Komponieren. Sergej Rachmaninow hatte sich 1904 als Kapellmeister am Bolschoitheater verdingt, er fand rasch Anerkennung und Bewunderung mit seinen Operndirigaten, aber auch im sinfonischen Repertoire, gerühmt für die unnachgiebige rhythmische Strenge seiner Interpretationen, seine Akkuratesse bei der Erarbeitung der Partituren, seine suggestive Ausstrahlung auf das Orchester und das Publikum. Gewiss wäre ihm eine große Dirigentenkarriere möglich gewesen, aber Rachmaninow verstand sich nicht als Interpret, zumindest nicht in erster Linie, sondern als schöpferischer Künstler. Muße für die kreative Arbeit, die ihm zeitlebens nicht leicht von der Hand ging, konnte er neben seinen Pultverpflichtungen aber nicht hinreichend finden. Zumal ihn obendrein die politische Lage im Russland jener Jahre belastete: Bauern und Arbeiter, Bürgerliche und selbst liberale Adelige begehrten gegen die autoritäre Herrschaft von Zar Nikolaus II. auf, die Bevölkerung litt Hunger, in den Industriezentren stieg die Arbeitslosigkeit. Doch auch die Russische Revolution von 1905, die immerhin erste Reformen ermöglichte, brachte keine einschneidende Besserung. Der sensible Rachmaninow, der mehrere Resolutionen zugunsten bürgerlicher Grundrechte mitunterzeichnet hatte, fühlte sich durch diese Entwicklungen tief beunruhigt. Im Juni 1906 fasste er den Entschluss, seine Position am Bolschoi aufzugeben und nach Dresden zu ziehen.

In der Sidonienstraße hatte er für seine Frau, seine Tochter und sich ein Haus gemietet, sechs Zimmer, Garten mit altem Baumbestand - die besten Bedingungen, um zur Ruhe zu finden, unbehelligt und inkognito. "Wir leben hier still und bescheiden", berichtete er seinen Freunden in der Heimat. "Wir sehen keinen und kennen niemand. Und auch selbst lassen wir uns nirgends sehen und wollen auch niemanden kennenlernen." Nur dann und wann zog es ihn in die Staatsoper, wo er "in größter Aufregung" die "Salome" von Richard Strauss hörte: Die Instrumentierung dieser Oper sei unglaublich, urteilte Rachmaninow. Zur Schaffenskraft aber konnte Rachmaninow auch in Dresden nicht leicht zurückkehren, zumal er sich ausgerechnet vorgenommen hatte, eine neue Sinfonie zu komponieren. Dabei musste er zunächst das Trauma überwinden, das er mit seinem Gattungserstling erlitten hatte: Damals, im März 1897, war die Uraufführung seiner Ersten zu einem Debakel sondergleichen geraten; das Werk war unzulänglich einstudiert worden, die Hörer lachten über den jungen Komponisten, der daraufhin fluchtartig den Konzertsaal verließ, und die Granden der Musikkritik bezichtigten ihn der Talentlosigkeit. Jahrelang konnte Rachmaninow nicht mehr arbeiten, bis eine psychotherapeutische Behandlung mit Hypnose-Sitzungen ihm Besserung brachte.

All das mochte ihm nun wieder durch den Kopf gehen, als er in Dresden Notenpapier und Bleistift zur Hand nahm: Er beklagte "ein Gefühl der Ängstlichkeit, Apathie und des Widerwillens gegenüber dem, was ich in meiner Arbeit getan habe". Dennoch gelang es Rachmaninow, das Particell der zweiten Sinfonie bis zum April 1907 abzuschließen. Die Instrumentierung nahm er dann größtenteils in den Sommermonaten vor, die er mit der Familie auf dem Landgut Iwanowka in der Oka-Don-Ebene verbrachte, einer weiten Steppenlandschaft, die er liebte und die entspannend auf ihn wirkte. Am 8. Februar 1908 konnte Rachmaninow in St. Petersburg das Werk selbst aus der Taufe heben. Und diesmal fielen die Rezensionen durchweg positiv aus, das Glinka-Komitee belobigte ihn gar mit dem ersten Preis für die beste Novität der Saison: vor Alexander Skrjabin und seinem "Poème de l’extase"! Gerühmt wurde vor allem der melodische Reichtum der Sinfonie, deren Kantilenen in weiten Bögen gespannt sind, sich unendlich aussingen, immer wieder neu beatmet und beseelt, und sich schließlich zu monumentalen Steigerungen auftürmen.

Nicht das gattungsspezifische Kontrastprinzip bestimmt den Verlauf, sondern der Gedanke der Ableitung, Aufspaltung und Fortentwicklung des thematischen Materials. Elegisch ist der Charakter des Kopfsatzes und vor allem des Adagios mit seinem schwermütigen Klarinettensolo, wobei der satte Streicherklang, der durchgängig vorherrscht, diesen Eindruck zusätzlich verstärkt. Während sich im Finale ein gewisser theatralischer Pomp bemerkbar macht, eine Vorliebe für den Effekt, die an entsprechende Vorbilder bei Tschaikowsky erinnert, ist Rachmaninow mit dem russisch inspirierten Scherzo an zweiter Stelle der Satzfolge ein veritabler Wurf gelungen: Ganz aus der Bewegungsenergie erfunden, offenbart es einen Hang zum Grotesken, der für das Spätwerk stilbildend wirken sollte. Rachmaninow hatte den Bannfluch, der auf ihm als Sinfoniker lastete, endgültig gebrochen.

Schwärmerisch und üppig - das sind die Begriffe, mit denen die zweite Sinfonie von Sergej Rachmaninow wohl am häufigsten charakterisiert wird. Gar als "luxuriös" wird ihr Klang beschrieben. Was auf der einen Seite vollkommen richtig ist, trifft auf der anderen kaum den Kern dieses Werks. Die Klangpracht ist keineswegs Selbstzweck, sie ist eher eine Folge aus Rachmaninows fein ausgearbeiteter, ja ausgebuffter Kompositionstechnik. Seine Klangsprache ist in dieser Sinfonie ein vielfältiges Geflecht aus sich überlagernden, sich gegenseitig durchwirkenden Stimmverläufen. Was in dieser Beschreibung kompliziert wirkt - das ist es auch. Aber es ist Rachmaninows Spezialität, dass sich dies beim Hören nicht in den Vordergrund drängt. Seine Zweite ist bis in die kleinsten Motive und in die innigste Passage hinein von vibrierender Intensität. Und gerade in der Verbindung dieser Emotionalität mit seinem meisterlichen Handwerk liegt Rachmaninows besondere Qualität.
Ein Hörgenuss von seltener Größe.

Heute fällt mir die Empfehlung besonders schwer - und deshalb überlasse ich Ihnen die Wahl Ihres Favoritmitschnitts. Los geht es mit dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia unter der Leitung von Sir Antonio Pappano, aufgezeichnet im Rahmen der BBC Proms am 19. Juli 2013 in der Londoner Royal Albert Hall:

www.youtube.com/watch

Das WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Cristian Măcelaru, aufgenommen am 3. September 2022 in der Kölner Philharmonie:

www.youtube.com/watch

Das Oslo Philharmonic unter der Leitung von Vasily Petrenko, aufgezeichnet am 15. Oktober 2019 in der Hamburger Elbphilharmonie:

www.youtube.com/watch

Am 19. September 2007 musizierte das NHK Symphony Orchestra unter der Leitung von Andre Previn Rachmaninows Zweite in der Suntory Hall in Tokio:

www.youtube.com/watch

Und zum Schluss noch ein Mitschnitt aus der Stadt, in der unser heutiges Werk entstand: Die Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Sir Antonio Pappano, aufgenommen am 8. Juli 2018 in der Dresdner Semperoper:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd