Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
ein Violinkonzert aus der russischen Musikliteratur des 20. Jahrhunderts erwartet Sie heute: Sergej Prokofjews Violinkonzert Nr. 1 D-Dur op. 19.
Obwohl Sergej Prokofjew selbst Pianist war, fasste er eine besondere Zuneigung zur Geige, der er einige seiner größten Werke widmete. Seine erste Begegnung mit dem Instrument datiert aus dem Jahre 1902: Sergej war elf Jahre alt, als der junge Reinhold Glière, der soeben sein Studium am Moskauer Konservatorium absolviert hatte, sein Privatlehrer in Klavier und Komposition wurde. Das begabte Einzelkind lebte mit seinen Eltern damals auf dem ukrainischen Landsitz in Sonzowka, wo der Vater als Gutsverwalter tätig war. Die nächste Stadt war weit entfernt; es gab keine Rundfunksendungen, die Tonaufzeichnung steckte noch in ihren Kinderschuhen, und so hatte Sergej bis dahin kaum etwas anderes als ein Klavier hören, geschweige denn in die Hand nehmen können. Sein einziges Orchestererlebnis lag bereits drei Jahre zurück: Damals hatte er mit seinen Eltern die lange Reise nach Moskau auf sich genommen, um das neue Jahrhundert mit einem Opernbesuch zu feiern. Jetzt brachte Glière seine Geige mit nach Sonzowka, und der künftige Komponist war von dem Instrument außerordentlich fasziniert. Wenn abends der Unterricht vorüber war, spielte der Lehrer die Violinsonaten von Mozart, bei denen ihn sein Schüler auf dem Klavier begleitete.
Gut zwölf Jahre später erlebte Prokofjew seine erste ernsthafte Liebesaffäre mit Nina Meschtscherskaja, der Tochter eines reichen Industriellen. Er schrieb eine lang ausgesponnene Geigenmelodie, aus der schließlich der Beginn des ersten Violinkonzertes op. 19 werden sollte. Anfangs freilich wusste der 24-jährige Komponist nicht recht, wie er fortfahren sollte, denn die gesangliche Qualität der Erfindung war so ganz anders als der brutale oder eher freche Modernismus, dessen er sich sonst befleißigte. Dann aber hörte er im Frühjahr 1916 den phänomenal begabten Geiger Paweł Kochański, als dieser gemeinsam mit dem polnischen Komponisten Karol Szymanowski dessen "Mythen" für Violine und Klavier aufführte. Prokofjew war von Kochańskis wohlklingendem Spiel verzaubert. Insbesondere hatte es ihm der Kopfsatz der Suite, "La Fontaine d’Arethuse", mit seinen duftigen Harmonien und den schwirrenden, über viele Saiten gleitenden Tremoli der Geige angetan.
Mit Kochańskis Hilfe komponierte Prokofjew in den ersten Wochen des Jahres 1917 den Rest seines Konzertes, das er anschließend während einer Kreuzfahrt auf der Wolga und der Kama orchestrierte. Er wählte dazu eine ähnliche Besetzung wie für seine Symphonie classique, die er im weiteren Verlauf des Jahres vollendete. Allerdings verdoppelte er die Zahl der Hörner auf vier; dazu kamen Tuba und Harfe sowie ein Tamburin und eine kleine Trommel, die dem zentralen Scherzo den rechten Schwung verleihen sollte. Im Gegensatz zu diesem wilden Tanz spiegelt sich in der luftigen, lichten Besetzung der Ecksätze offenbar die "jungfräuliche, außergewöhnlich schöne" Landschaft, der er begegnet war; und der herzlichen Kantabilität des Werkes, die er in früheren Kreationen mit sardonischem Witz unterbrochen oder womöglich gar durchbohrt hätte, begegnen jetzt als wirkungsvolle Kontraste verschiedene skurril verspielte Episoden.
Dass jemand ganz auf die Kraft der Melodie setzt und Werke komponiert, die durch stetig fortgesponnene Kantilenen charakterisiert sind, ist zumindest außergewöhnlich für eine Zeit, in der alte Ordnungen aufgelöst wurden, in der Schönheit als ästhetische Kategorie zunehmend in Zweifel gezogen wurde, in der ein Weltkrieg nachklang und ein zweiter seinen Schatten voraus warf. Fakt ist aber, dass Prokofjew trotz seines Bekenntnisses zur „schönen Melodie“ keineswegs zu den Anachronisten seiner Generation gehörte und dass er die Möglichkeiten einer modernen Klangsprache durchaus für sich zu nutzen wusste.
Von den ersten Anfängen des ersten Violinkonzerts bis hin zu seiner Uraufführung sollten acht Jahre vergehen. 1915, im Alter von 24 Jahren, hatte Prokofjew mit den Arbeiten an dem Werk begonnen, das er zunächst bewusst klein halten wollte: Ihm schwebte „nur“ ein Concertino vor. Im Herbst 1917 hätte die Uraufführung des nun doch zum vollgültigen Concerto angewachsenen Konzerts stattfinden sollen, just in der Zeit jener Ereignisse, die später als Oktoberrevolution in die Geschichte eingehen sollten. 1918 emigrierte Prokofjew erst in die USA und später dann nach Paris, und in den Wirren der Geschichte sollte es bis Oktober 1923 dauern, bevor das Konzert den Weg auf das Podium fand. Und auch da lief es zunächst nicht rund.
„Einige Geiger lehnten es ab, eine solche Musik einzustudieren“ , erinnert sich Prokofjew später an die Situation. Zu kompliziert war der Solopart den einen, zu sentimental den anderen. Letztlich musste in Ermangelung eines prominenten Solisten der Solopart bei der Uraufführung in Paris dem Konzertmeister anvertraut werden - der die Aufgabe aber offenbar recht ordentlich meisterte. Der berühmte Geiger Joseph Szigeti war es, der mit seinen Aufführungen in Europa und den USA dem Werk erst jene positive Resonanz verschaffte, der es sich bis heute als eines der führenden Virtuosenstücke erfreut.
Zwei Interpretationen stelle ich Ihnen heute zur Auswahl, zunächst Frank-Peter Zimmermann mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Mariss Jansons. aufgezeichnet im April 2018 im Herkulessaal der Münchner Residenz:
Zum Vergleich: Hilary Hahn mit dem NHK Symphony Orchestra unter der Leitung von Paavo Järvi, aufgezeichnet 2005 in der Suntory Hall in Tokio:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Urlaubsgrüßen von der Nordsee
Matthias Wengler