Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
Musik von Franz Schubert erwartet Sie in der heutigen Ausgabe: Die "Wanderer"-Fantasie C-Dur D 760. Neben der Originalversion für Klavier stelle ich Ihnen am Ende dieser Ausgabe auch die Fassung für Klavier und Orchester von Franz Liszt vor.
Schubert komponierte das Werk im November 1822. Allgemein als Krisenjahr bezeichnet, entstanden aber gerade in dieser Zeit eine ganze Reihe seiner wichtigen Werke - gleichzeitig mit der "Wanderer"-Fantasie z. B. auch die Sinfonie h-Moll, die sog. „Unvollendete“. Es gab mehrere Vorbilder, insbesondere die Fantasien Carl Philipp Emanuel Bachs und Wolfgang Amadeus Mozarts. Schubert entwickelte die Gattung in diesem Meisterwerk jedoch weiter. Er kombinierte darin das Prinzip der Fantasie mit dem des Sonatenzyklus, indem er das Ganze in vier nahtlos ineinander übergehende Großabschnitte (Sätze) einteilte, dabei aber thematisch alles aus einem Kern ableitete, eben jenen aus dem Lied „Der Wanderer“ entnommenen Takten im zweiten Satz.
"Die Sonne dünkt mich hier so kalt, die Blüte welk, das Leben alt, und was sie reden, leerer Schall; ich bin ein Fremdling überall" - so lautet die Textzeile zu der Melodie, auf die Schubert in der Fantasie konkret zurückgreift. In der "Wanderer"-Fantasie bestimmen diese Worte nicht nur das Thema des Adagio-Teils, sondern - in Umformungen - bereits das Haupt- und Seitenthema des ersten Teils. Schließlich bestimmt diese Melodie zugleich das Thema des Scherzos sowie des fugierten Schluss-Teils.
Als alles bestimmendes Leit- und Leidmotiv tritt zugleich in diesem Thema ein markanter, unnachgiebig pochender Rhythmus in Erscheinung: der sogenannte "Wanderer"-Rhythmus. Er zieht sich durch das ganze Werk, hält den Zyklus wie eine Lebensader zusammen. Der Adagio-Teil besteht aus einer Folge von Variationen, wobei die gebrochene Harmonik, die fragil-luzide Klangsinnlichkeit und der jenseitig sehnende, weltentrückte Lyrismus einen Gipfelmoment der musikalischen Romantik markieren. Dieses spezifische Kolorit scheint bereits Franz Liszt und die französischen Impressionisten vorwegzunehmen.
Als eines der wenigen Instrumentalwerke Schuberts erschien das Stück im Druck und wurde schon damals von der Kritik begeistert aufgenommen. Es gehört auch heute noch zu den vielgespielten, wenn auch technisch und musikalisch überaus anspruchsvollen Werken dieses Komponisten.
Drei Konzertmitschnitte stelle ich Ihnen zur Auswahl, zunächst Yevgeny Kissin in einer Aufzeichnung aus den Münchner Bavaria-Studios vom Dezember 1990:
Zum Vergleich ein Mitschnitt mit Herbert Schuch:
Und zuletzt Lang Lang bei seinem Debüt in der New Yorker Carnegie Hall am 7. November 2003:
Zum Abschluss noch die Fassung für Klavier und Orchester: Franz Liszt hat sich intensiv und umfassend mit Schuberts "Wanderer"-Fantasie auseinandergesetzt, um die wesentlichen schöpferischen Ideen Schuberts treffsicher einzufangen. In seiner Bearbeitung des Werks spiegelt sich die eigentliche Intention Schuberts konzis wider, denn: Im Schaffen Schuberts nimmt das Werk in Dimension und virtuosem Anspruch im Grunde faktisch die Position eines Klavierkonzerts ein, das Schubert nie komponiert hat.
"Das Zeug soll der Teufel spielen", soll Schubert selbst über die höchst anspruchsvolle "Wanderer"-Fantasie gesagt haben. Dabei hatte er das Werk eigentlich für einen semi-professionellen Laienpianisten komponiert, einen Schüler von Johann Nepomuk Hummel. Hieraus erklärt sich manches laute, pianistische Brio in Hummel’scher Manier. Genau diese Intention hat Liszt erkannt, um aus der Klavier-Fantasie ein Konzertstück für Klavier und Orchester zu machen. Zugleich erfasste Liszt jedoch die schöpferisch singuläre Besonderheit dieses Werks, mit der Schubert die weitere Entwicklung der romantischen Musik ganz zentral prägen sollte. Aus einem einzigen, thematischen Keim entwickelt Schubert hier eine zyklische, großangelegte, in diesem Fall im Grunde viersätzige Form. Genau dieses Prinzip greift Liszt in seiner großen Klaviersonate h-Moll auf, um es weiterzuentwickeln.
Hier zum Abschluss noch ein Mitschnitt der Liszt-Bearbeitung für Klavier und Orchester mit Teo Gheorghiu und dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Vasily Petrenko, aufgezeichnet am 22. Januar 2017 in der Liverpool Philharmonic Hall:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler