Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
über unser heutiges Musikstück schreibt der Komponist selbst: „Ich komponiere schlecht. Ich habe ein Klavierkonzert beendet, das keinerlei künstlerische oder ideelle Werte besitzt!“. So urteilte Dmitri Schostakowitsch vernichtend über sein 1957 entstandenes Klavierkonzert Nr. 2 F-Dur op. 102.
In seiner neoklassizistischen Ästhetik wirkt Schostakowitschs zweites Klavierkonzert wie aus der Zeit gefallen. Im Westen loteten die führenden zeitgenössischen Komponisten nach dem zweiten Weltkrieg die neuen Möglichkeiten der seriellen und elektronischen Musik aus. Aber auch in der Sowjetunion war nach dem Tod Josef Stalins und dem einsetzenden politischen Tauwetter wieder eine weitaus progressivere Musiksprache möglich, ohne dass Komponisten mit Aufführungsverbot oder noch Schlimmerem rechnen mussten. Schostakowitsch beweist dies mit seiner ebenfalls 1957 entstandenen 11. Sinfonie.
Warum fällt dieses Klavierkonzert so aus dem Rahmen? Eine Erklärung liefert möglicherweise der Name des Pianisten, für den es geschrieben wurde:
Maxim Schostakowitsch, der Sohn des Komponisten. Das Konzert entstand mit Blick auf dessen Abschlussprüfung an der Zentralen Musikschule Moskau. In diesem Rahmen brachte Maxim das Konzert am 10. Mai 1957, seinem 19. Geburtstag, zur Uraufführung. Während das Werk heute eine große Popularität beim Publikum genießt, scheiden sich in dessen kritischer Rezeption nach wie vor die Geister. Schostakowitschs eigene Expertise - siehe oben - hat dazu nicht unwesentlich beigetragen. Entsprechend dieser selbstkritischen Bezichtigung reichen denn auch die Urteile über das Werk von einem banalen Showpiece bis zum genialen Wurf von beißendem Humor. Es stellt sich die Frage, ob seine Aussage für bare Münze zu nehmen ist, oder ob sich hinter ihr, wie so häufig bei Schostakowitsch, womöglich eine Botschaft versteckt.
Denn die Musik wirkt so offenkundig hemmungslos, anachronistisch und heterogen, dass sich der Verdacht auf eine bewusste Gestaltung aufdrängt - und sie entspräche insofern seiner Ästhetik, als es "keine vollwertige, lebendige, schöne Musik ohne einen bestimmten Ideengehalt" geben kann, wie er 1951 schreibt. Das Konzert präsentiert sich als collagierender, neoklassizistischer Stilmix, der in seinem Spiel mit Bekanntem ständig an Vorbilder gemahnt. So erinnert der Beginn des 1. Satzes an einen verzerrten Rachmaninow, wohingegen das zweite Thema Assoziationen an das Seemannslied „What shall we do with the drunken sailor?“ weckt - was durchaus kein Zufall sein muss, da Schostakowitsch bereits 1943 britische und amerikanische Volkslieder bearbeitet hat. Bei aller Formelhaftigkeit im klassischen Verlauf des Satzes wirkt er in seinem überbordenden Frohsinn wie eine Karikatur.
Das nostalgische Andante verkehrt den Effekt mit ähnlichen Mitteln ins Gegenteil, fühlt man sich doch in seiner lyrischen Schlichtheit in die Mittelsätze romantischer Klavierkonzerte zurückversetzt. Der sich unmittelbar anschließende Finalsatz treibt den Optimismus vom Anfang beinah ins Groteske: Zirkushaft-hämmernde Klänge des Klaviers wechseln sich hier mit banal-etüdenhaften Skalenläufen ab und versetzen den Zuhörer in eine Zirkusmanege. Schostakowitschs Klavierkonzert lässt eine ganze Reihe an Lesarten zu. Einerseits entspricht es in seiner Bühnenwirksamkeit durchaus den Forderungen des sozialistischen Realismus, dessen Prinzipien der gesellschaftlichen Bedeutung von Kunst sich der Komponist nicht grundsätzlich widersetzte. Andererseits kommt die Musik derart überzogen und plakativ daher, dass sie ebenso gut als Verweis auf die Absurdität des kulturellen Diktats verstanden werden kann, unter dem er so viel Leid zu ertragen hatte.
Mit Blick auf die Entstehungsumstände und die Widmung an Maxim ist es gleichzeitig denkbar, dass er seinem Sohn ein Werk zum pianistischen Brillieren schenken wollte. Immerhin erscheinen die rasanten Läufe im Finalsatz wie ein Wink an Schulliteratur bspw. eines Charles-Louis Hanon, dessen Etüden zur Grundausstattung einer jeden sowjetischen Klavierausbildung zählten. Doch wie so häufig verweigert sich eine einfache Erklärung der Musik. Die Hintergründe des Klavierkonzerts bleiben widersprüchlich, sodass letzten Endes "nur" der Höreindruck eines kurzweiligen Werkes voller Spielfreude und Esprit bleibt.
Unser heutiger Konzertmitschnitt entstand am 6. Oktober 2015 in der New Yorker Carnegie Hall. Yuja Wang musizierte im Rahmen der Opening Night Schostakowitschs zweites Klavierkonzert mit dem Philadelphia Orchestra unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler