Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
unser heutiges Musikstück wird oft als englische "Winterreise" bezeichnet: Songs of Travel von Ralph Vaughan Williams.
Gemeinsam sind diesen beiden Liederzyklen von Ralph Vaughan Williams und Franz Schubert die Themen Wandern, Trennung, Einsamkeit und Naturerleben. Unterschiedlich ist aber nicht allein der zeitliche Umfang - Schuberts Werk dauert mehr als doppelt so lang -, sondern vor allem die Stimmung. Dominieren bei Schubert Zorn, Verzweiflung und wütender Spott, so sind Vaughan Williams’ Wander-Lieder erfüllt von Stolz, Melancholie, Zärtlichkeit. Auch fehlt ihnen der zeitgenössische politisch-soziale Subtext, wie er sich für die "Winterreise" entschlüsseln lässt.
Robert Louis Stevenson, der berühmte schottische Autor der „Schatzinsel“, hinterließ bei seinem Tod 1894 auf Samoa im Südpazifik eine Sammlung von 44 Gedichten mit dem Titel „Songs of Travel“. Neun dieser Reiselieder vertonte Ralph Vaughan Williams zwischen 1901 und 1904 mit Anfang dreißig. Sie gelten als sein erster gewichtiger Beitrag zur Gattung des Kunstliedes. Inhaltlich wird ein Verlauf von Liebe über Abschied zu Sterben angedeutet, jedoch ohne dass genauer eine Geschichte erzählt würde. Im Zentrum stehen die Erinnerungen des Protagonisten und seine Empfindungen inmitten der Natur. Abschließend wird zwischen dem Wanderer und dem Künstler eine Parallele gezogen, zwischen beider Dasein und Dahinschwinden.
Reiselieder sind ein altes Genre, die Figur des Wanderers war zumal in der europäischen Romantik sehr beliebt. Fast immer haben diese künstlerischen Gestalten des Unterwegsseins mit der Erfahrung zu tun, sozial oder religiös nicht mehr geborgen zu sein. Auch der Vagabund in den „Songs of Travel“ lässt alle menschlichen Bindungen hinter sich, um unbehaust zu leben. Die Vorstellung, einen gotterfüllten Himmel über sich zu haben, mag ihm anfangs noch Vertrauen zu seinem Aufbruch geben. Doch nach Liebe und Trennung erfährt er seine Verlorenheit in einem vollkommenen Niemandsland.
Wohin ist dieser Wanderer unterwegs? Kommt er jemals an? Während Stevenson die Größe der Sprache feiert, die den Einzelnen in sich aufnimmt, beschreibt Vaughan Williams in seiner Musik die Schönheit der heimischen Natur und des traditionellen Volkslieds.
Zwei Mitschnitte stelle ich Ihnen auch heute zur Auswahl, zunächst aus dem Jahr 2021 mit Roderick Williams und Daan Boertien aus dem Concertgebouw Amsterdam:
Aus dem selben Jahr zum Vergleich ein Mitschnitt aus der Houston Grand Opera mit Blake Denson und Alex Munger:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler
