Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
bis heute gilt die Sinfonie Nr. 3 von Gustav Mahler als eine der großartigsten und kraftvollsten Schöpfungen des spätromantischen Komponisten. Die mittlere jener drei Sinfonien, die Texte aus der Gedichtsammlung "Des Knaben Wunderhorn" von Clemens Brentano und Achim von Arnim vertonen, überragt die anderen deutlich an Ausmaß und Monumentalität, ist Mahlers längstes Werk und zählt mit rund 105 Minuten Spieldauer zu den längsten Sinfonien der Romantik überhaupt.
Die Besetzung ist riesig und umfasst neben einem sehr großen Orchester auch eine Solo-Altstimme sowie Frauen- und Knabenchor. Neuartig ist auch die Vielzahl der Sätze: Es sind nicht weniger als sechs! Und schließlich finden sich in Mahlers Dritter alle möglichen denkbaren musikalischen Genres - auch solche, die in einer Sinfonie sonst eigentlich nichts verloren haben: von einfachen volksliedartigen Melodien bis zu den derben Klängen einer marschierenden Blaskapelle.
Während seiner Zeit als Direktor der Hamburger Oper in den 1890er Jahren arbeitete Mahler nahezu besessen, um die Qualität des Theaters zu steigern. Aber sobald die Saison vorbei war, reiste er aufs Land, um eine Verschnaufpause einzulegen. Seine Auszeit verbrachte er in diesem Fall in Steinbach am Attersee, Österreich. Mahlers Auszeit war allerdings strikt durchorganisiert: Schon vor sechs Uhr morgens war er aufgestanden und in das kleine Blockhaus am See gelaufen. Dort setzte er sich mit Blick auf den See hin, Stift und Notenpapier vor sich und komponierte. So verbrachte er die Zeit bis zu den späten Nachmittagsstunden. Heute ist dieses kleine Haus als Museum zu besichtigen. Wenn die Musik nicht so leicht fließen wollte, unternahm er lange Spaziergänge in den Bergen rund um seine Hütte. Auf diese Weise entstand seine dritte Sinfonie.
Sie handelt von der Natur. Mahler war ein leidenschaftlicher Naturliebhaber. Sie war wie ein Teil seiner selbst. Kurz vor Vollendung der Sinfonie schrieb er in einem Brief: „Stellen Sie sich ein Werk von einer solchen Größe vor, dass es tatsächlich die ganze Welt widerspiegelt - Sie sind sozusagen nur ein Instrument, auf dem das Universum spielt … Meine Sinfonie wird etwas sein, von dem die Welt noch nie gehört hat! In der Musik hat die Natur selbst ihre Stimme gefunden… und wenn ich einige Teile lese, kann ich kaum glauben, dass ich sie selbst geschrieben habe… "
Eine komplette musikalische Kosmologie wollte Gustav Mahler in seiner dritten Sinfonie erschaffen: von der unbeseelten Materie über Pflanzen, Tiere, Menschen und Engel bis hinauf zur göttlichen Liebe. Vollendet hat Mahler dieses Werk 1896. Er äußerte sich über dieses Werk in Briefen und Gesprächen ausführlicher als über jede andere seiner Kompositionen. Ursprünglich hatte er vor, den sechs Sätzen charakterisierende Titel zu geben: "Pan erwacht. Der Sommer marschiert ein", sollte der erste Satz lauten. Dann ging es weiter mit: "Was mir die Blumen auf den Wiesen erzählen", "Was mir die Tiere im Walde erzählen", "Was mir der Mensch erzählt", "Was mir die Engel erzählen" und schließlich "Was mir die Liebe erzählt". Auch wenn Mahler sein Programm später zurückzog (wahrscheinlich aus Angst vor Fehldeutungen), kann dessen Kenntnis zum Verständnis der Musik nicht schaden.
Im über 30-minütigen ersten Satz geht es um die langsame Gestaltwerdung des Lebens aus der rohen, unbelebten Materie. Der Sommer, der hier nach Mahlers Worten einmarschiert, vertreibt allmählich die Schatten des Winters, haucht der Natur Leben ein und steht am Schluss als triumphaler Sieger da. Zu Beginn jedoch muss zuerst einmal die Entwicklung angestoßen werden. Und dies geschieht mit dem eingangs erwähnten signalartigen Thema in den Hörnern zu Beginn der Sinfonie. Es steht für den "Weckruf", ohne den der Rest des Satzes nicht möglich wäre. Ein ungewöhnlicherer Beginn für eine Sinfonie als die Anfangstakte von Mahlers Dritter lässt sich wohl schwerlich finden: Acht Hörner intonieren im Unisono ein Thema - halb Marsch, halb Volkslied, nicht fröhlich, aber auch nicht traurig. Es ist wie Musik vor dem Beginn der Zivilisation: eisern, monolithisch - beinahe wie ein klingendes Bergmassiv!
Nachdem die Natur zum Leben erwacht ist, kommen nacheinander die verschiedenen Lebensformen zu Wort - in aufsteigender Reihenfolge. "Tempo di Menuetto" ist der zweite Satz überschrieben, und er handelt von den Blumen: "Es ist das Unbekümmertste, was ich je geschrieben habe - so unbekümmert, wie nur Blumen sein können. Das schwankt und wogt alles in der Höhe, aufs leichteste und beweglichste, wie die Blumen im Winde auf biegsamen Stielen sich wiegen." Unbekümmert in der Tat wirkt diese Musik, auch etwas altertümlich. Sie atmet, wie sonst kaum etwas in Mahlers Schaffen, einen Alt-Wiener Charme, besitzt die Gemütlichkeit eines handkolorierten Märchenbuchs.
Im dritten Satz, einem Scherzo, betreten wir die Welt der Tiere. Als Vorlage nahm Mahler eines seiner Lieder aus "Des Knaben Wunderhorn". Es trägt den Titel "Ablösung im Sommer" und beginnt mit den Worten "Kuckuck hat sich zu Tode gefallen". Dem Kuckuck begegnen wir in diesem Satz ebenso wie dem Esel und anderen Tieren. Es ist eine ganze Menagerie, die da vor unseren Ohren vorbeizieht. Die Musik trägt einen zwar vorwiegend lustigen, aber auch doppelbödigen und gelegentlich sogar aggressiven Charakter. Wie schon einmal erwähnt: Programmmusik ist dies natürlich nicht, aber man sollte schon eine Ahnung bekommen von ihrem kreatürlichen Hintergrund, wenn man sie hört.
Kurz bevor dieses Scherzo zu Ende geht, ereignet sich noch etwas Unvorhergesehenes, Schockierendes: Ein panischer Aufschrei des ganzen Orchesters stellt für kurze Zeit die Welt der unbeseelten Materie aus dem Kopfsatz wieder her, bevor der Satz in plötzlicher Hektik dem Ende entgegen eilt. Es ist ein Rückfall in den atavistischen Urzustand, bevor im vierten Satz der Mensch sich zu Wort meldet - sowohl in Mahlers Kosmologie, die er in seiner dritten Sinfonie zum Klingen bringt, als auch in Wirklichkeit: Eine Altstimme intoniert die Worte von Friedrich Nietzsches "Mitternachtslied". Mahler stand Nietzsches Philosophie übrigens durchaus skeptisch gegenüber, doch das "Mitternachtslied" aus "Also sprach Zarathustra" erschien ihm genau passend, um auszudrücken, was er an dieser Stelle der Sinfonie sagen wollte: Mit dem Menschen ist auch das Leid in die Welt gekommen, denn einzig der Mensch hat die Fähigkeit, sich dieses Leids bewusst zu werden. Aber er ist auch in der Lage, Freude zu empfinden, die letztlich stärker ist als das Leid. "Weh spricht: vergeh. Doch alle Lust will Ewigkeit."
Die menschliche Leidenschaft ist im fünften Satz überwunden; die Engel, denen wir hier begegnen, singen von einer höheren Warte aus - heiter, aber ohne irdische Emotion. Bei aller himmlischen Heiterkeit gibt es jedoch auch Leid im Reich der Engel. Es wird verkörpert durch Petrus, der weinend seine Sünden bereut. Um ihm Gestalt zu verleihen, kehrt die Altstimme aus dem vierten Satz zurück. Doch die Klage bleibt Episode: Friedlich und gut gelaunt klingt der kurze Satz aus.
"Was mir die Liebe erzählt" wollte Mahler den letzten Satz seiner dritten Sinfonie ursprünglich betiteln. Was er damit meinte, schrieb er seiner Freundin Anna von Mildenburg: "Das Motto zu diesem Satz lautet: "Vater, sieh an die Wunden mein! Kein Wesen lass verloren sein!" Verstehst Du also, um was es sich da handelt? Es soll damit die Spitze und die höchste Stufe bezeichnet werden, von der aus die Welt gesehen werden kann. Ungefähr könnte ich den Satz auch nennen "Was mir Gott erzählt". Und zwar eben in dem Sinne, als ja Gott nur als die Liebe gefasst werden kann." Der Schluss dieses großen Adagio-Satzes gehört zu den schönsten Passagen seiner Musik überhaupt. Und zudem hat er nur wenig geschrieben, was von einem vergleichbaren inneren Frieden beseelt ist. Ein inniges Ende eines gigantischen Werks.
Einzelsätze der Sinfonie wurden bereits im November 1896 sowie im Februar und März 1897 in Berlin und Budapest gespielt. Die Uraufführung des Gesamtwerks kam jedoch erst am 9. Juni 1902 im Rahmen der Tonkünstler-Versammlung des Allgemeinen Deutschen Musikvereins in Krefeld zustande. Sie markierte - ein selten einhelliger Erfolg bei Publikum und Presse - den entscheidenden Durchbruch Mahlers als Komponist.
Drei Mitschnitte empfehle ich Ihnen sehr gerne, zunächst aus dem legendären Mahler-Zyklus mit Leonard Bernstein und den Wiener Philharmonikern, aufgezeichnet am 26. April 1972 im Wiener Musikverein, mit dabei sind Christa Ludwig, die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor und die Wiener Sängerknaben:
Der zweite Mitschnitt kommt aus dem Budapester Konzertsaal und wurde dort am 24. September 2023 im Rahmen des George Enescu Festivals aufgezeichnet - es musizieren Jennifer Johnston, der Chor und der Kinderchor des Rumänischen Rundfunks sowie das Concertgebouworkest Amsterdam unter der Leitung von Klaus Mäkelä:
Und zuletzt noch ein Mitschnitt vom August 2007 aus dem Luzerner Kultur- und Kongresszentrum mit Anna Larsson, dem Arnold Schönberg Chor, dem Tölzer Knabenchor und dem Lucerne Festival Orchestra unter der Leitung von Claudio Abbado:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler