Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
unser heutiges Musikstück zählt zu den Werken, die viel zu selten im Konzertsaal erklingen: Das Violinkonzert op. 15 von Benjamin Britten.
Im Frühjahr 1936 nimmt Benjamin Britten von London aus einen Flieger nach Barcelona. In der katalanischen Hauptstadt finden in jenem Jahr die Weltmusiktage der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik statt, bei denen er seine Suite für Violine und Klavier op. 6 vorstellen wird. Solist ist Antonio Brosa, ein spanischer Geiger, den Britten am Royal College of Music kennengelernt hat. Für Brosa ist diese Uraufführung ein Heimspiel: Im Alter von zehn Jahren hatte er in Barcelona mit dem Brahms-Violinkonzert debütiert. Wenige Monate nach der Uraufführung von Brittens Suite bricht der Spanische Bürgerkrieg aus - für den 22-jährigen Komponisten und seinen politisch links orientierten Freundeskreis ein Schock. Auf dem Höhepunkt der Kampfhandlungen, im März 1939, schreibt Britten seine Kantate "Ballad of Heroes" op. 14 und widmet diese Antikriegsmusik den britischen Gefallenen der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg.
Aus Ahnung vor dem bevorstehenden Zweiten Weltkrieg schifft er sich nur einen Monat später mit seinem Lebensgefährten, dem Tenor Peter Pears, nach Kanada ein. Einen Tag, nachdem die beiden an Bord der "RMS Ausonia" in See stechen, droht Hitler England unverhohlen mit Krieg; nur wenige Tage später wird mobil gemacht. Auf der Überfahrt flüchtet sich der Komponist in die Erinnerung an die gemeinsame Aufführung mit Antonio Brosa in Barcelona: "Tony spielt wie ein Gott der Fiedel, der er ja auch ist". Und so arbeitet Britten auf hoher See an seinem Violinkonzert op. 15, das er im Sommer als Gast eines Berghotels am kanadischen Mont Tremblant vollendet. Das Werk wird zum Dokument einer Epoche - und weist doch darüber hinaus. „Über Europa lag dieser große faschistische Schatten der Nazis, die jeden Moment alles zugrunde richten konnten, und man hatte das Gefühl, dass Europa weder den Willen hatte, noch irgendetwas unternahm, sich dem zu widersetzen. Ich ging nach Amerika und glaubte, dass dort meine Zukunft liegen würde. Ich brauchte sehr lange, um zu erkennen, dass dem nicht so war.“ So erinnerte sich Benjamin Britten 1960 an die Jahre des Zweiten Weltkriegs zurück.
Als Antonio Brosa zur Uraufführung in die USA einreisen wollte, wurde er von amerikanischen Behörden zunächst als „gefährlicher“ Ausländer interniert, ehe er am 28. März 1940 die Premiere dann doch mit dem New York Philharmonic unter John Barbirolli in der Carnegie Hall spielen konnte. Britten selbst hielt sein Opus 15 damals für „fraglos mein bestes Stück. Es ist ziemlich ernst, fürchte ich - aber es gibt durchaus einige Melodien!“ Die Premiere des Violinkonzerts wurde sowohl vom Publikum als auch von den Musikkritikern gut aufgenommen. Zweifellos steht das Stück für eine neue Dimension der Reife in Brittens Musik, die sich am deutlichsten in dem ausgedehnten Passacaglia-Finale äußert (eine Form, die später eine besonders charakteristische und originelle Struktur des Komponisten werden sollte).
Das Paukensolo, mit dem das Stück beginnt und dessen Quartmotiv sich durch das gesamte Werk zieht, ist mehr als ein - wenn auch bewusster - Bezug zu Beethovens Violinkonzert: Das drohende Pochen lässt den bevorstehenden Weltenbrand anno 1939 ahnen. Zugleich bezieht er sich damit unterschwellig auf die Heimat Brosas, der in diesem forschen Paukenmotiv eine Reminiszenz an Spanien und den Bürgerkrieg erkannte. Mit den virtuosen Verzierungen, die auf Empfehlungen des Geigers zurückgehen, ist Britten zehn Jahre später nicht mehr zufrieden und glättet die gesamte Partitur.
Brittens Violinkonzert ist technisch höchst anspruchsvoll; der große Virtuose Jascha Heifetz bezeichnete es als unspielbar - und mied es konsequent. In der Nachkriegszeit war es Ida Haendel, die das Konzert weltweit zu Gehör brachte. Die ersten Aufnahmen entstanden in den 1960er Jahren, aber auch heute interessieren sich nicht alle großen Geigerinnen und Geiger für das Werk. Dennoch sind im Lauf der Zeit etliche Aufnahmen entstanden - unter anderem mit Ida Haendel, Frank Peter Zimmermann, Arabella Steinacher, Augustin Hadelich oder Janine Jansen.
Janine Jansen ist auch im folgenden Konzertmitschnitt von den BBC Proms zu erleben. Mit dem Orchestre de Paris musizierte sie Brittens Violinkonzert am 1. September 2013 in der Londoner Royal Albert Hall:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Urlaubsgrüßen von der Nordsee
Matthias Wengler