Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
heute erwartet Sie eine Sinfonie, die nur selten in den Konzertprogrammen auftaucht: Die Sinfonie Nr. 6 d-Moll op. 104 von Jean Sibelius.
Als Sibelius 1915 seinen 50. Geburtstag feierte, war er nicht nur in Finnland, sondern auch international ein hochangesehener Komponist. Dennoch konnte er sich über seinen Ruhm nicht freuen. Der Ausbruch des ersten Weltkriegs 1914 hatte einen schmerzhaften Rückgang seiner Einkünfte mit sich gebracht. Ein großer Teil seiner Werke war bei deutschen Verlagen erschienen, und da Finnland damals noch ein Großfürstentum des mit Deutschland im Krieg befindlichen russischen Reichs war, blieben die Zahlungen aus. Finnische Verleger interessierten sich vor allem für Stücke, die sich für die Hausmusik eigneten. Und so komponierte Sibelius während der Kriegsjahre vor allem Klavierminiaturen und Stücke für Geige und Klavier, durch die er seinen Lebensunterhalt sichern konnte. Das einzige größere Werk dieser Zeit war die fünfte Sinfonie.
Nachdem Finnland im Zuge der russischen Revolution 1917 seine Unabhängigkeit erlangt hatte und der Krieg im Jahr darauf zu Ende gegangen war, normalisierten sich die Verhältnisse. Sibelius konnte wieder auf Reisen gehen und auch im Ausland eigene Werke dirigieren, so 1921 in England, wo er acht Konzerte in zwei Wochen gab. Die Eastman School of Music in Rochester (New York) bot ihm sogar den Posten des Direktors an, den er nach längerem Zögern aber ablehnte. Um diese Zeit hatte er bereits mit der Arbeit an der sechsten Sinfonie begonnen. Ihre Wurzeln reichen aber viel weiter zurück: Schon während der Entstehung der Fünften, also in den Jahren 1914/15, brachte Sibelius die ersten Skizzen zu Papier, noch unschlüssig allerdings, ob sich die neuen Ideen nicht eher für ein "Concerto lirico" für Violine und Orchester eigneten.
Als er die sechste Sinfonie Anfang 1923 fertig stellte, war sie ihm ganz anders geraten als die heroische Fünfte: "Sie ist sehr ruhig in Charakter und Umriss" , beschrieb Sibelius sie einem schwedischen Journalisten. Über ihre vier Sätze urteilte er, sie seien "in formaler Hinsicht vollkommen frei. Keiner von ihnen folgt dem herkömmlichen Sonatenschema" . Das fällt besonders beim ersten Satz auf, der seine Form im Erklingen gewissermaßen erst finden muss und dessen motivische Partikel sich erst nach und nach zu thematischer Signifikanz verdichten. In der ruhigen polyphonen Einleitung liegt gleichwohl schon die motivische Substanz für die gesamte Sinfonie vor.
Konzentration des Materials und Verknappung der Mittel sind wesentliche Merkmale der Sechsten. Ins Auge fällt auch ihre kirchentonale Prägung. Drei der vier Sätze sind ohne Vorzeichen notiert, so dass man eher vom dorischen Modus als von d-moll als Tonart sprechen muss. Dieser Rekurs auf ein Tonsystem, das historisch vor dem Dur-moll-Dualismus liegt, gibt der Sinfonie einen archaischen Zug. Choralanklänge scheinen gar auf einen kirchlichen oder zumindest religiösen Kontext zu verweisen. Und doch assoziierte der Komponist selbst wohl eher Naturbilder mit der Sechsten: An den "Duft des ersten Schnees" fühlte er sich auch später 1943 an sie erinnert. Ihre Uraufführung erfolgte am 19. Februar 1923 in Helsinki unter Sibelius’ Leitung.
Meine Empfehlung für Sie heute ist ein Mitschnitt mit dem Swedish Radio Symphony Orchestra unter der Leitung von Esa-Pekka Salonen:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler