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23.01.2024 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 579

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

heute erwartet Sie ein russisches Werk: Le Poeme de l'extase op. 54 von Alexander Skrjabin.

Skrjabin gilt als der große Exzentriker der russischen Musik. Den Durchbruch schaffte er 1908 mit seinem Orchesterwerk "Le Poème de l'extase", das sich an ein zeitgleich von ihm selbst verfasstes Gedicht anlehnt. Henry Miller beschrieb dessen berauschende Wirkung so: "Es war wie Eisbad, Kokain und Regenbogen." Welche Ekstase Skrjabin genau meint: eine sexuelle, politische oder religiöse, bleibt unklar. Sein Wunsch ist es, mit seinen rauschhaften Klängen die Welt zu verändern: "Ich bin ein Nichts, ich bin ein Spiel, ich bin die Freiheit, das Leben, ich bin eine Grenze, ein Gipfel, ich bin Gott, ich bin das Erblühen, die Glückseligkeit, die das Weltall ergreifende Flamme…", zitiert Friedrich Gorenstein in seinem Roman "Skrjabin. Poem der Ekstase" aus Skrjabins Aufzeichnungen.

Wer war Alexander Skrjabin? Es ist nicht genug, diese Frage mit einer langweiligen Enzyklopädie-Aussage "ein russischer Komponist und Pianist" zu beantworten. Er war ein besessener, an die magische Kraft der Kunst glaubender, leidenschaftlicher und genial begabter Mensch, den seine Zeitgenossen als "elektrisch aufgeladen" beschrieben. Welche Wirkung mag Skrjabin auf den russischen Schriftsteller und Dichter Boris Pasternak gehabt haben, wenn dieser schrieb: "Wenn ich ihn sah, erbleichte ich, um gleich darauf über das Erbleichen zu erröten" ? Mystisches und Geheimnisvolles umgibt den Komponisten: Seine Geburt an Weihnachten sah Skrjabin als Zeichen der Auserwähltheit, während Zeitgenossen seinen Tod am Dienstag der Osterwoche als mystisch empfanden.

Konnte so ein Mensch Musik nur hören? Wer "ja" sagt und mit Selbstverständlichkeit meint, Musik kann man ja nur hören, der täuscht sich. Musik war für den Synästheten Skrjabin nicht nur Klang, denn er konnte beim Hören von Tonarten bestimmte Farben sehen. Stellen Sie sich vor, Sie hören C-Dur und vor Ihren Augen entsteht ganz von allein ein feuriges Rot! Genauso war es bei Skrjabin, allerdings nicht bei jeder Tonart gleich. Er gab selber zu, drei Farben davon klar zu sehen und die anderen theoretisch zuzuordnen - entsprechend seinem philosophischen und musiktheoretischen Wissen. Sein Freund und Biograf Leonid Sabanejew erstellte eine Liste von Skrjabins farbigen Klangvorstellungen.

Eine außergewöhnliche Idee hatte Skrjabin über zehn Jahre lang kaum Ruhe gelassen: Ob man daran glaubt oder nicht, aber die Aufgabe seines großen Stücks "Mysterium" war nichts Geringeres, als die ganze Menschheit zu befreien, nachdem sie in kollektive Ekstase versetzt worden ist - und Skrjabin sah sich selbst als Messias. Wäre es möglich, so eine gigantische Idee allein durch Musik umzusetzen? Jedenfalls nicht in den Augen von Skrjabin! Seine synästhetische Veranlagung entfaltete sich weit außerhalb der schon erwähnten Ton-Farbe-Verknüpfung. Er wollte ein Gesamtkunstwerk schaffen. In "Mysterium" sollten sich alle Künste mit allen Sinnesempfindungen verbinden: Musik, Tanz, Architektur, Poesie, Farbe, Licht, Berührungen, Blicke und Gerüche. Auch die Trennung zwischen den Aufführenden und dem Publikum sollte aufgehoben werden, alle sollten mitwirken - dann, so meinte Skrjabin, entstünde Magie und Beschwörung. Nicht nur die Werkkomposition, sondern auch der Aufführungsort beschäftigte ihn - er skizzierte dafür einen kugelförmigen Tempel, der sich in Indien befinden sollte. "Ich dachte lange darüber nach, wie man diesen Tempel fließend und kreativ halten könnte. Und plötzlich fielen mir Säulen aus Weihrauch ein. Sie werden durch die Lichter des Lichtorchesters beleuchtet und sie werden auseinanderlaufen und sich wieder zusammenfügen!" , beschrieb der Komponist seinem Freund Leonid Sabanejew. Die Skizzen seiner ca. zwölfjährigen Arbeit an "Mysterium" sind zum Glück erhalten geblieben.

Leider konnte Skrjabin das Stück aufgrund seines frühzeitigen Todes im Jahr 1915 nicht beenden. Während Skrjabin für seine "Mysterium"-Idee schon brannte, komponierte er "Le Poème de l’Extase" - ein exaltiertes, flammendes Musikwerk, das wir als einen der Schritte zum "Mysterium" verstehen können. Schon die erste kleine Melodie der Flöte holt uns ab in eine ekstatische Welt voller Mystik und Feuer. So ein intensiver Musik-Gedanke forderte neue kompositorische Entscheidungen, die Skrjabin nicht zuletzt in die Orchestrierung einbrachte. Vor allem beeindruckt die üppige Besetzung mit acht Hörnern, fünf Trompeten und einer Glocke. Sogar eine majestätische Orgel nimmt am Orchester teil und treibt den größten Höhepunkt am Ende des Stückes auf die Spitze. Sinnliche Ausdrucksbezeichnungen äußern die erotische Seite von Skrjabins Klangvorstellungen: "zart ausdrucksvoll streichelnd", "sehr duftend", "mit immer stärkerem Rausch", "fast wahnsinnig", "mit zunehmend ekstatischer Wollust". "Ob Skrjabin schon verrückt aufgrund seines religiös-erotischen Wahnsinns wird?" , fragte sich der russische Komponist Rimskij-Korsakow auf dieses Stück bezogen.

Schmachten - Fliegen - Kampf - Triumph! Um diese hochspannenden Themenkomplexe dreht sich sowohl "Le Poème de l’Extase", als auch das gleichnamige Gedicht von Skrjabin, mit dem das Orchesterstück in Verbindung steht. Während man den Inhalt kennenlernt, darf man nicht vergessen, dass die musikalische Substanz über einen eigenen spezifischen Inhalt verfügt und mehrdeutiger als ein ihr zugeschriebenes Programm ist. Die zauberhafte langsame Einführung eröffnet eine verträumte Flöte (Thema der Sehnsucht). Mit dem plötzlichen Tempowechsel tritt das impulsive Thema des Fliegens mit schillernden Geigen ein. Wenn Sie mehrere Aufrufe von der Trompete hören und dabei "Ich bin" innerlich mitsingen können, stolziert vor Ihnen das Thema der Selbstbehauptung. Die Verflechtungen von diesen und mehreren anderen musikalischen Elementen bilden das Ekstatische - ein musikalisches Gewebe voller Drang, Konflikten und zauberhaften Klängen. So ruft Skrjabin zum Leben auf: "Euch, verborgene Bestrebungen, mysteriöse Kräfte! Ihr in dunklen Tiefen des schaffenden Geistes versunkenen, ihr ängstlichen Keime des Lebens: Kühnheit bringe ich euch!! Von jetzt an seid ihr frei!"

Aufführungen dieses Werks sind immer ein Fest für groß besetzte Orchester - unser heutiger Konzertmitschnitt kommt aus dem hr-Sendesaal in Frankfurt. Alain Altinoglu dirigierte am 17. Oktober 2022 das hr-Sinfonieorchester:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd