Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
heute erwartet Sie ein eher düsteres Werk aus der Gattung Klavierkonzerte: Sergej Prokofjews Klavierkonzert Nr. 2 g-Moll op. 16.
Es ist das zweite seiner fünf Klavierkonzerte und lässt die weitere stilistische Entwicklung seines Schaffens vorausahnen. Während das erste Konzert wegen seiner einsätzigen Form und den sportlichen Anforderungen massiv kritisiert wurde, wählte Prokofjew für sein zweites eine Viersatz-Struktur. Klassizistisch traditionell ist es ohne Frage, dennoch erneut sehr experimentell. Die ausufernde Solokadenz des Klaviers, die vielleicht schwerste Kadenz aller Zeiten, sprengt innerhalb des ersten Satzes den formellen Rahmen der Durchführung. Auch der sportliche, virtuose Gestus bleibt erhalten. Im Vergleich zum Startwerk ausgeprägter ist hingegen die melodische Komponente, die bereits die weitere stilistische Entwicklung für Prokofjews gesamtes Schaffen vorausahnen lässt.
Während der Arbeit an dem Werk ereignete sich ein folgenschwerer Vorfall, der zwar nicht für den grundsätzlich dunklen Farbton des Stücks verantwortlich ist, aber aus dem vielleicht die Art und Weise, wie Prokofjew am Finale arbeitete und das gesamte Werk elf Jahre später überarbeitete, hervorgegangen sein mag, nämlich der Selbstmord von Max Schmidthof, Prokofjews Kommilitonen am Sankt Petersburger Konservatorium, mit dem eine besonders leidenschaftliche Freundschaft entstanden war. Am 27. April 1913 erhielt er eine kurze Mitteilung von Max: “Ich muss Dir die neusten Neuigkeiten erzählen – ich habe mich erschossen.” Prokofjews Tagebucheintrag vom 9. Mai ist typisch lakonisch: "Die Augen offen und beide Schläfen blutgetränkt... - Max war sich seiner sicher gewesen; er hatte nicht mit der Wimper gezuckt, und seine Hand war ruhig. Die Kugel durchschlug die rechte Schläfe und trat durch die linke wieder aus. Ein guter Schuss. Bravo. Als ich nach Hause kam, schrieb ich in die Partitur des zweiten Klavierkonzerts: "In Erinnerung an Maximilian Anatoliewitsch Schmidthof." Morgen werde ich eine schwarze Krawatte anlegen und sie in Trauer um meinen Freund tragen."
Zu Anfang seiner Karriere ließ Prokofjew nichts unversucht, um sich als Enfant terrible und absolut schwindelfreier pianistischer Hochseilartist ins Gespräch zu bringen: Exorbitant schwierige Klavierstücke mit Titeln wie „Diabolische Suggestionen“ oder „Sarkasmen“ legen davon beredtes Zeugnis ab. Doch am besten errät man das Wesen des Künstlers und Menschen Prokofjew aus den Berichten von der Uraufführung seines zweiten Klavierkonzerts. Das Werk, das bis heute durch bestürzenden Avantgardismus und aberwitzige Virtuosität besticht, erklang erstmals am 5. September 1913 im Musikpavillon von Pawlowsk. Der Komponist, gerade mal 22 Jahre alt, spielte den Solo-Part. Nach dem letzten Akkord raste das Publikum vor Empörung: „Zum Teufel mit der futuristischen Musik. Die Katzen auf dem Dach machen bessere Musik.“ Prokofjew verbeugte sich, als würde er bejubelt - und spielte eine Zugabe. In dieser arroganten Zurschaustellung scheinbarer Unerschütterlichkeit ist sein ganzes Wesen zu lesen.
Begeistert waren von Prokofjews Musik seinerzeit vor allem enthusiastische Vorkämpfer des Neuen, wie der Dichter der Revolution, Wladimir Majakowski: „Ich höre jetzt nur noch Musik von Prokofjew. Kaum dass die ersten Töne erklingen, strömt schon das Leben ein: Das ist keine Form der Kunst, sondern das Leben selbst“ , jubelte der Poet. Und Anatoli Lunatscharski, Lenins kunstsinniger Kommissar für Volksaufklärung, warb um den Komponisten mit den Worten: „Sie sind Revolutionär in der Musik, und wir sind es im Leben – wir müssten zusammenarbeiten.“ Doch der Snob Prokofjew hatte mit revolutionären Bewunderern wenig am Hut. Im Mai 1918 verabschiedete er sich aus Russland in Richtung USA und notierte in sein Tagebuch: „Lebt wohl, Genossen. Von jetzt an werde ich mich nicht mehr schämen müssen, eine Krawatte zu tragen.“
Seine Erwartungen auf eine Karriere im Westen wurden enttäuscht. In den USA galt Rachmaninow als Inbegriff des russischen Pianisten; in Paris, wo Prokofjew es als nächstes versuchte, blieb Strawinsky die Verkörperung der russischen Moderne. Und als er 1936 endgültig in die UdSSR zurückkehrte, lag er mit Schostakowitsch im Dauerwettstreit um den Ruf des führenden sowjetischen Komponisten.
Anfang der 1920er-Jahre zog Prokofjew sich ins bayerische Örtchen Ettal zurück, um dort eines seiner kühnsten (und erfolglosesten) Werke, die Oper „Der feurige Engel“, zu komponieren. Parallel zu der Arbeit an der Oper zog er die Skizzen zu seinem zweiten Klavierkonzert wieder hervor, die Partitur selbst war in den Wirren der Revolutionszeit verloren gegangen. Was wir heute als zweites Klavierkonzert kennen, stammt also aus jener Zeit, als Prokofjew ein weiteres Mal versuchte, dem Kollegen Strawinsky in Paris den Rang als Neutöner abzulaufen. In der rekonstruierten Fassung erklang das Konzert mit dem Komponisten am Flügel und Sergej Koussevitzky am Pult 1924 erstmals in Paris.
Dort allerdings hatte sich der Zeitgeschmack längst vom Modernismus ab- und dem Neoklassizismus zugewandt. Wer in Prokofjew nur den Modernisten und Parodisten sieht, für den beginnt das zweite Klavierkonzert mit einer Überraschung. Denn der Komponist zeigt sich im ersten, schwelgerischen Thema - mit der Vortragsanweisung „narrante“ (erzählend) - ganz von seiner romantischen Seite. Erst das zweite Thema schlägt die gewohnt parodistischen Töne an. Höhepunkt des ersten Satzes ist die längste und schwierigste Solo-Kadenz der gesamten Konzertliteratur. Ohne Ruhepause für den Pianisten folgt ein irrwitziges Perpetuum mobile als Scherzo und dann ein dröhnend-gewichtiger Satz mit dem ironischen Titel „Intermezzo“. Im Finale zeigt Prokofjew sich zunächst wieder von seiner virtuos-modernistischen Seite, um zur Mitte des Satzes hin auf ein Thema im Tonfall russischer Volksmusik umzuschwenken.
Drei Interpretationen habe ich heute für Sie ausgewählt, zunächst Alexandre Kantorow mit dem Russian National Youth Symphony Orchestra unter der Leitung von
Alexander Lazarev, aufgezeichnet am 15. March 2021; Alexandre Kantorow spielt als Zugabe noch zwei Werke von Johannes Brahms: Das Finale aus der Sonate f-Moll op. 5 und die Ballade d-Moll op. 10:
Yuja Wang musizierte Prokofjews Opus 16 am 16. Mai 2015 mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Paavo Järvi:
Und zum Abschluss: Anna Vinnitskaya mit der Dresdner Philharmonie unter der Leitung von Marek Janowski, aufgezeichnet im Dezember 2019 im Dresdner Kulturpalast:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler