Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
ein besonderes Orchesterwerk von Claude Debussy erwartet Sie in der heutigen Ausgabe: Trois Nocturnes.
Ursprünglich geplant waren die Nocturnes als eine Art dreiteiliges Violinkonzert besonderer Art: im ersten Satz sollten nur die Streicher den Solisten begleiten, im zweiten drei Flöten, vier Hörner, drei Trompeten und zwei Harfen und im dritten dann alle Instrumente. Debussy ging es um den Versuch, diesen verschiedenen Kombinationen einer einzigen Farbe möglichst viele Aspekte abzugewinnen: er verglich das mit einer Mal-Studie in Grau.
Doch Debussy verwirft diese Violinfassung, und so nehmen zwischen 1897 und 1899 die Nocturnes ihre neue Gestalt an: gegliedert in den ersten Satz „Nuages" (Wolken, den zweiten Satz „Fêtes" (Feste) und den dritten Satz „Sirènes“, womit in der Tat verführerische Sirenen gemeint sind, deren lockender Gesang durch einen ins Orchester integrierten Chor ohne Worte realisiert wird. Also kein Violinkonzert, auch - trotz der Titel - keine programmatische Musik, die einen Vorgang schildert, sondern eher traumhafte Visionen, nicht bemüht, die wirkliche Welt einzufangen, sondern durch den Klang ein Erlebnis im Kopf des Hörers zu erwecken: sei es Natur, ein Fest in magischem Licht oder die Ahnung eines seit der Antike bedrohlich-verführerischen Gesangs.
In der Musikgeschichte markieren diese Nocturnes einen wichtigen Punkt: sie sind, wie Heinrich Strobel es formulierte, „der Triumph der Nuance in der Musik. Ein Jahrhundert handelte sie von großen Leidenschaften, ein Jahrhundert lang malte sie mit leuchtenden Ölfarben,...nun wählt sie die zartesten Farben, nun erzählt sie nicht mehr vom Menschen, sondern von der Natur, vom Traum, von einer unwirklichen Welt.“ Vorbei das Ringen mit sinfonischen Gestaltungsprinzipien, das Austragen von thematischen Konflikten. In unkonventioneller Instrumentation setzt Debussy Sensibilität an die Stelle von Pathos, gleitendes Nebeneinander anstelle von dramatischer Entwicklung, in sich ruhende Klänge anstelle auflösungsbedürftiger harmonischer Spannungen.
Das vorherrschende Klangbild in „Nuages“ besteht aus einem Hintergrund mehrfach geteilter Streicher, vor dem in der Oboe und den Hörnern im Wesentlichen auslaufende Linien gespielt werden. Flöte, Harfe und eine Sologeige bereiten dem mittleren Teil ein eher traditionelleres Thema, sodass die Form insgesamt durch eine Abfolge von Zusammenfluss und Auflösung gekennzeichnet ist. Die gleiche Form kennzeichnet auch „Fêtes“, den zweiten Satz, und kommt hier in den Bläsern zum Ausdruck (von Debussy unmissverständlich als „Garde républicaine“ tituliert). Alle drei Stücke vermitteln den Eindruck eines einsamen Beobachters von Menschheit und Natur. Im dritten Satz, „Sirènes“, mag sich der Zuhörer im Glauben wähnen, die Sirenen sängen für ihn ganz allein. Als Töchter der Natur haben sie nicht gelernt, ihr Lied aus klassischen, akademischen Prinzipien zu entwickeln, und entfalten ihren Zauber stattdessen mithilfe sanft variierender Wiederholungen. Es überrascht daher nicht, dass Ravel, Meister der Monotonie, die „Sirènes“ als den gelungensten der drei Sätze bezeichnete.
Unser heutiger Konzertmitschnitt stammt von den Salzburger Festspielen 1992, Pierre Boulez dirigierte die Wiener Philharmoniker im Großen Festspielhaus:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler