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22.07.2024 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 656

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

ein Klassiker der Klavierliteratur erwartet Sie in der heutigen Ausgabe: Frédéric Chopins Klaviersonate Nr. 2 b-Moll op. 35, auch bekannt als "Trauermarsch-Sonate".

Gegen Ende seines Lebens schrieb Frédéric Chopin seine große Sonate in b-Moll - ein Stück, das nie zuvor gekannte Modulationen aufwies und die Welt staunen ließ. Nicht von ungefähr schrieb Robert Schumann : "Dass Chopin es Sonate nannte, möchte man eher eine Caprice heißen, wenn nicht einen Übermut, dass er gerade vier seiner tollsten Kinder zusammenkoppelte". "Musik ist das nicht", schrieb Schumann 1841 über das knapp über eine Minute dauernde Finale der b-moll-Sonate von Frederic Chopin. Und das bei aller Bewunderung für den Komponisten, den er zehn Jahre zuvor den Lesern seiner Musikzeitung mit den Worten vorgestellt hatte: "Hut ab, ihr Herrn - ein Genie!". Das Kopfzerbrechen über die Sonate b-Moll hält bis heute an. Und das ungewöhnliche Werk gibt ihre Geheimnisse nicht preis. Warum sind alle vier Sätze ausschließlich in Moll gehalten? Wieso verzichtet Chopin in der Reprise auf das obligatorische erste Thema? Und warum nimmt der berühmte Trauermarsch den zentralen Platz in der Sonate ein?

"Ein riesiger schwarzer Trauerzug. Eine lange Kette von Menschen. Und plötzlich reißt der Nebel auf. Ein Sonnenstrahl zwischen den dunklen Wolken! Und etwas entflammt in den ausgebrannten Herzen. Man beginnt an etwas zu glauben. Jemand singt, traurig und einfach. Dieses Lied verspricht nichts - und tröstet trotzdem..." - so beschrieb der russisch-sowjetische Kulturpolitiker Anatoly Lunatscharsky den Trauermarsch aus Chopins b-Moll-Sonate. Der Trauermarsch ist wohl das berühmteste Werk in diesem Genre - es gibt unzählige Bearbeitungen für Blaskapellen jeglicher Besetzung. Mit dieser Musik wurden viele Größen der Welt zu Grabe getragen - wie der amerikanische Präsident John F. Kennedy und der sowjetische Parteiführer Leonid Breschnew. Auch Chopin selbst wurde mit dieser Musik am Pariser Friedhof Père Lachaise beigesetzt.

Der Trauermarsch entstand im Jahr 1837 - ganze zwei Jahre, bevor die drei übrigen Sätze der Sonate komponiert wurden. War es ein Nachklang auf die rücksichtslose Unterdrückung des polnischen Aufstandes gegen die russische Besatzungsmacht? Oder die Trauer über die Unmöglichkeit, in die Heimat zurückzukehren? Und - um wessen Tod geht es hier eigentlich?

September 1836. Der 27-jährige Chopin reist von Paris nach Marienbad, um sich dort mit seinen Eltern zu treffen. Er hat sie schon sechs Jahre nicht mehr gesehen, seitdem er aus Polen ausgewandert ist. Dort in Marienbad verliebt er sich in die siebzehnjährige Maria Wodzinska, Tochter eines reichen polnischen Adeligen. Chopin hält um ihre Hand an. Sein Antrag wird unter der Bedingung angenommen, dass er im Verlauf des folgenden Jahres seinen Lebensstil des wandernden Künstlers ändert und sich um seine schwache Gesundheit kümmert.

Einen Monat später begegnet Chopin in Paris zum ersten Mal der damals 32-jährigen George Sand. Seine erste Reaktion auf diese in Männerkleidung auftretende, Zigarren rauchende Frau war pure Ablehnung: "Was für eine unsympathische Frau sie doch ist! Ist sie denn wirklich eine Frau? Ich möchte es fast bezweifeln." Im Jahr darauf löst Familie Wodzinski die Verlobung zwischen Frédéric und Maria. Chopin fällt darauf in eine tiefe Lebenskrise. Auf ein Bündel von Marias Briefen schreibt Chopin die Worte: "Mein Unglück". Kurz darauf entsteht sein berühmter Trauermarsch. Und es war keine andere als die sechs Jahre ältere George Sand, die Chopin aus seiner Krise herausholte und ihm sein seelisches Gleichgewicht wiedergab. Sie wurden ein Paar. 1839, zwei Jahre nach all diesen Ereignissen, komponiert Chopin auf dem Sommerlandgut von George Sand seine zweite Sonate op. 35 b-Moll.

Das erste Sonatenthema ist von solch jagender Nervosität gezeichnet, dass es fast wie eine Erlösung wirkt, wenn der schöne lyrische Gesang des zweiten Themas einsetzt. Ein großer dramatischer Konflikt findet so seinen Ausdruck. Er endet zwar mit einem vorläufigen triumphalen Sieg. Doch der zweite Satz greift sofort die verwirrende Unrast wieder auf und bannt den Hörer durch abrupte Wechsel von überstürzter Hast und sanften Ruhepunkten. In noch tiefere Abgründe der Hoffnungslosigkeit führt der dritte Satz - der Trauermarsch. Und das Finale ist vergleichsweise melodiearm. Es ist eine für beide Hände unisono gesetzte und im Presto-Tempo dargebotene Tonlinie. Ein Satz, über den Anton Rubinstein bemerkte: "Ein Raunen des Windes über den Gräbern". Bei dem Reichtum der dargebotenen Tragik und der Fülle an Stimmungskontrasten ist es für einen Interpreten sicherlich nicht einfach, das Gefühl für die Form zu behalten.

Kennengelernt habe ich diese Sonate durch den Pianisten Ivo Pogorelich, den Martha Argerich durch einen publikumswirksamen Skandal 1980 schlagartig weltberühmt machte. Nachdem die Jury des Warschauer Chopin-Wettbewerbs, der auch Martha Argerich angehörte, Ivo Pogorelich von der Finalrunde aufgrund seiner eigenwilligen Chopin-Interpretation ausschloss, verließ sie wütend die Jury und verkündete vor der Weltpresse: "Dieser Mann ist ein Genie." Die Folge: In kürzester Zeit begann eine Weltkarriere. Im folgenden Link ist Pogorelich als Teilnehmer des Chopin-Wettbewerbs mit der b-Moll-Sonate zu erleben:

www.youtube.com/watch

Zum Vergleich noch einmal Ivo Pogorelich in einer Fernsehaufzeichnung in der Villa Contarini in Piazzola sul Brenta vom August 1987:

www.youtube.com/watch

Zwei Pianisten der jüngeren Generation möchte ich Ihnen noch empfehlen, zunächst Bruce Liu, Gewinner des 18. Chopin-Wettbewerbs 2018 - hier zu sehen in einem seiner Wettbewerbsbeiträge in der Warschauer Nationalphilharmonie:

www.youtube.com/watch

Seong-Jin Cho, der 2015 als erster Koreaner den Chopin-Wettbewerb gewann - hier ebenfalls zu sehen in einer Wettbewerbsrunde:

www.youtube.com/watch

Und als letzte Empfehlung des heutigen Tages, fernab jeglicher Wettbewerbskonkurrenz: Klavierlegende Vladimir Horowitz in einem Chopin-Recital, aufgezeichnet 1978 im Weissen Haus in Washington - hier das Programm:

Sonate Nr. 2 b-Moll op. 35
Walzer a-Moll op. 34 Nr.2
Walzer cis-Moll op. 64 Nr.2
Polonaise As-Dur op. 53

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler
 

Beitrag von sd