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29.08.2022 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 371

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

heute soll wieder einmal ein Liederzyklus im Mittelpunkt stehen: Les Illuminations op. 18 von Benjamin Britten.

Arthur Rimbaud war um die 20 Jahre alt, als er die Prosagedichte seiner epochalen, 1876 von seinem zeitweiligen Geliebten Paul Verlaine herausgegebene Sammlung "Les Illuminations" schrieb - Benjamin Britten war 25, als er 1939 eine Auswahl daraus für Sopran und Streicher vertonte.

Britten lernte die Gedichte Rimbauds durch die Empfehlung seines Freundes, des Dichters W. H. Auden, in den 1930er Jahren kennen. Sophie Wyss, die Solistin der Uraufführung, erzählte später, Britten habe eine Zeit lang von nichts Anderem als den Illuminations sprechen können, seine eigene Vertonung hielt er für sein bis dahin bestes Werk. Für Brittens Leben und Karriere bedeutete sie einen Aufbruch: Er, der wie Rimbaud aus der Provinz stammte, vollendete sie in New York, wohin er mit seinem späteren Lebensgefährten, dem Tenor Peter Pears, gereist war.

Der Dichter der Textvorlage hielt sich in der Entstehungszeit der Illuminations mit seinem Kollegen und Geliebten Paul Verlaine in den europäischen Hauptstädten Paris, London und Brüssel auf. Rimbauds Lyrik wie Brittens Vertonung sind vom Geist des Urbanen erfüllt, der auf eine mystische und surreale Ebene transformiert wird: "Die Bacchantinnen aus der Vorstadt schluchzen, und der Mond brennt und heult. Venus tritt in die Höhlen der Schmiede und Einsiedler." Mythologisches und Zeitgenössisches, Schmutz und Glanz begegnen sich in einer Sprache, deren letzte Bedeutung rätselhaft erscheint. Sie bleibt dem Dichter und seinem Komponisten vorbehalten: "J’ai seul la clef de cette parade sauvage" ("Ich alleine besitze den Schlüssel zu dieser wilden Parade") schreibt Rimbaud. Britten macht diesen Satz zum drei Mal wiederkehrenden Motto seiner Komposition.

Rimbaud spricht in den Illuminations selbst von einer "unbekannten" oder "rauen Musik", die mit traditionellen Schönheitsvorstellungen brechen soll. Britten reagiert darauf mit einer ungewöhnlichen Verwendung der Streichinstrumente: In der einleitenden Fanfare, deren gebrochene Akkordfolgen in zwei weit voneinander entfernt liegenden Tonarten das gesamte Stück durchziehen, maskieren sie sich gewissermaßen als Blechblasinstrumente. Flageoletttöne erzeugen eine sphärische Stimmung, wenn Rimbaud für einen Tanz "Ketten zwischen den Sternen" aufzuspannen plant; Gitarrenklänge begleiten den lasziven Liebesgesang "Antique", eine Ode an den anmutigen Sohn des Pan.  

Britten schrieb das Werk ursprünglich für die erwähnte Sopranistin Sophie Wyss. Den Durchbruch zum Erfolg erlebten die Illuminations allerdings erst, nachdem sich das Verhältnis Brittens zu Peter Pears vertieft und dieser sie in sein Repertoire aufgenommen hatte. Deshalb hört man das Stück heute etwas öfter von Tenören gesungen. Dabei vermittelt die Originalversion noch mehr das flirrende Vibrieren der urbanen Atmosphäre, die Britten mit Rimbaud verbunden haben mag.

Während für Britten die Illuminations in das Anfangsstadium seiner Laufbahn fielen, beendete Rimbaud mit diesen Texten bereits seine Karriere als Schriftsteller. Sie hatte nur fünf Jahre gedauert, aber ein intensives, kompromisslos modernes Werk hervorgebracht, auf das sich Surrealisten, Symbolisten und Expressionisten immer wieder beziehen sollten. "Assez vu […] Assez eu […] Assez connu", heißt es in Rimbauds Gedicht "Départ", das am Ende von Brittens Zyklus steht: "Genug gesehen. Genug gehabt. Genug erkannt".  Der "Aufbruch zu neuer Erregung, neuem Lärm" - so der letzte Vers des Vierzeilers - führt Rimbaud aus der Literatur heraus. Nachdem er sich selbst in den Dichter-Ruhestand versetzt hatte, verbrachte er 16 Jahre als die Welt durchquerender Abenteurer und Geschäftsmann, ehe er 1891 in Marseille starb.

Heute können Sie wählen zwischen hoher Frauen- und hoher Männerstimme. Zunächst Barbara Hannigan als Solistin und Dirigentin mit dem Orchestre Philharmonique de Radio France in einem Mitschnitt vom 16. Juli 2020 im Auditorium von Radio France:

www.youtube.com/watch

Wenn es um Britten geht, darf ein Sänger nicht fehlen - Ian Bostridge, gemeinsam mit dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von Daniel Harding, aufgezeichnet am 20. August 2013 in der Londoner Royal Albert Hall:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd