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25.06.2021 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 190

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

soviel Selbstbewusstsein muss man erst einmal haben: Für seine Abschlussprüfung am St. Petersburger Konservatorium wählte Sergej Prokofjew 1914 kein bekanntes Klavierkonzert der Vergangenheit, sondern setzte mutig ein eigenes Werk, das zwei Jahre zuvor seine Premiere erlebt hatte, auf das Programm. Unser heutiges Musikstück ist das Klavierkonzert Nr. 1 Des-Dur op. 10 von Sergej Prokofjew.

Das Werk entstand zwischen Frühsommer 1910 und Februar 1912, die Uraufführung fand am 25. Juli 1912 in Moskau mit dem Komponisten als Solisten statt. Zu diesem Zeitpunkt schloss der 21-jährige Prokofjew sein Kompositionsstudium ab und hatte bereits einige sinfonische Werke, eine Klaviersonate und verschiedene Charakterstücke für Klavier in seinem Portfolio. Das Klavierkonzert entstand aus dem Material mehrerer bereits komponierter Stücke, die Skizzen sind schließlich zu einem einzigen Werk verschmolzen.

Dieses Verfahren, das an das Zusammensetzen eines Puzzles erinnert, wird von Prokofjew im Laufe seines Lebens immer wieder angewendet und zeigt sich auch in der Form des Klavierkonzerts, die von einem Rezensenten der damaligen Zeit als zusammenhaltlose, konstruierte Aneinanderreihung verschiedener Fragmente kritisiert wurde. In Wirklichkeit ist die Form des einsätzigen Stücks originell und zukunftsweisend. Außerdem ähnelt das Konzert wegen seiner äußerst markanten Einleitung, die am Anfang, in der Mitte und am Ende des Stückes im Tutti erscheint, einem klassischen Rondo. Die Klavierbehandlung ist typisch für den jungen Prokofjew. Sie kennt etüdenartige Abschnitte ebenso wie komplizierte Akkorde und Intervallsprünge. Es gibt motorisch-toccatenhafte Teile, daneben aber auch lyrische Episoden. Mit seinem ersten Klavierkonzert legte der junge Komponist einen eigenständigen Gegenentwurf zum romantischen Solokonzert vor. In seiner mehr als hundertjährigen Geschichte hat sich das erste Klavierkonzert als ein immer noch frisches und unkonventionell wirkendes Virtuosenstück bewährt, das die Tradition des romantischen Klavierspiels gleichsam zusammenfasst und abschließt.

Gewährt wurde ihm von der Jury sein eigenes Klavierkonzert im Examensprogramm 1914 nur unter der Bedingung, dass der Prüfungskommission zumindest Noten des vorgetragenen Werks vorliegen müssten. Prokofjew konnte tatsächlich für druckfrische Exemplare der Partitur am Tag der Prüfung sorgen. Das Vorspiel unter der Leitung von Nikolai Tscherepnin brachte ihm nicht nur seinen Studienabschluss ein, sondern auch den Anton-Rubinstein-Preis des St. Petersburger Konservatoriums, womit er als bester Jahrgangsabsolvent zugleich einen Flügel der Firma Schröder verliehen bekam.

Das Klavierkonzert polarisierte in der Kritik, schon bei der Premiere war es keineswegs nur auf Begeisterung gestoßen. Zwar waren in Moskau Kollegen wie Nikolai Mjaskowski voll des Lobs gewesen und hatten „Brillanz, Witz, Humor und Einfallskraft“ bewundert; andere jedoch hatten das Konzert als „energieberstende, rhythmisch grelle, ungehobelte, primitive Kakophonie“, ja, schlichtweg als „musikalischen Dreck“ belächelt. Es war der Beginn einer Tradition, nach der jedes neue Werk Prokofjews überaus kontrovers diskutiert wurde. Es war aber auch der Einstand des Komponisten in der russischen Avantgarde-Szene, die ihm immerhin eine Einladung der namhaften Konzertdirektion Serge Koussevitzky bescherte - und die ihn zur Komposition eines zweiten Klavierkonzerts motivierte, dessen Uraufführung dann vollends im Skandal endete. Aber das ist eine andere Geschichte...

Hier also Prokofjews Klavierkonzert Nr. 1 Des-Dur op. 10 in einem Konzertmitschnitt mit Martha Argerich, aufgenommen am 29. Juli 2005 beim Festival La Roque d'Anthéron, es spielt das Orchestre Symphonique de Flandres unter der Leitung von Alexander Rabinovtich-Barakovsky:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von red