Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
die letzte Ausgabe in diesem Jahr habe ich für ein Werk von Leonard Bernstein reserviert: Die Sinfonie Nr. 3 "Kaddish".
Leonard Bernstein saß über den letzten Partiturseiten seiner dritten Sinfonie "Kaddish", als die Nachricht von der Ermordung des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy eintraf. Am 22. November 1963 schrieb der Komponist auf die erste Seite seiner Sinfonie: "To the beloved Memory of John F. Kennedy". Die Worte des "Kaddish" werden in der jüdischen Religion traditionellerweise auch als Totengebet am Grab Verstorbener und bei Gedächtnisfeiern gesprochen. Ursprünglich entstand "Kaddish" ("Heiligung") vermutlich im ersten oder zweiten Jahrhundert nach Christus, aber als jüdischer Lobpreis Gottes zum Gebet in der Synagoge. Der erste Gebetstext ist in einer Mischung aus Hebräisch und Aramäisch, der damaligen Volkssprache im Nahen Osten, überliefert. In den nächsten Jahrhunderten veränderte sich der Text, seit dem 12. Jahrhundert wird er unverändert gebetet. Im Mittelpunkt des Gebets steht neben dem Gotteslob die Bitte um Frieden und um die Niederkunft des Gottesreiches auf der Erde und in Israel.
In der Sinfonie betet der Chor das "Kaddish" dreimal. Im ersten Teil komponierte es Bernstein als verzweifeltes und anklagendes Totengebet. Im Orchester zieht sich ein Ostinato aus den zwölf Tönen der chromatischen Tonleiter durch das Gebet, nachdem in der langsamen Einleitung eine dreitönige Anrufung mit Aufwärtsbewegung angestimmt wurde. Das Gebet im ersten Teil wird zunehmend zu einem wilden Tanz, das "Amen" kommt aufgeregt in Synkopen und Halbtonschritten über die Lippen der Sänger. Der Sprecher, der Mensch, macht von Anfang an klar, er bete sein eigenes "Kaddish" als persönliche Aussprache mit Gott, die sich zum Angriff auf Gott wandelt, ihn in Frage stellt und am Ende zur Aussöhnung zwischen Gott und dem Menschen führt.
Der zweite Teil der Sinfonie beginnt mit einer Stimmung der Ratlosigkeit und der Einsamkeit im Universum: zerrüttete Schlagwerkklänge, ein Summchor im Hintergrund und verzweifelte Fragen des Menschen an Gott, ob dieser denn überhaupt zuhöre, überhaupt wahrnehme, was die Menschheit auf dem Erdenreich anrichtet mit Krieg, Vernichtung von Mitmenschen und der Erfindung einer Bombe, die den ganzen Planeten auslöschen könne. Der Chor hängt noch immer in den zerklüfteten "Amen"-Rufen fest, die schließlich in eine kreisende melodische Bewegung übergehen und in der Ferne verschwinden. Der Mensch hält Gott als Fehler vor, den Menschen nach seinem, Gottes, Ebenbild erschaffen zu haben.
Solosopran und Knabenchor setzen mit dem zweiten "Kaddish" der Sinfonie ein, in kantablen Melodien voller Sehnsucht nach Frieden und mit Worten des Trostes. Zwischendurch kommen bewegte Tonfolgen auf, als ob die Betenden eine neue Energie bemächtige. Dann tragen die Streicher hymnisch den Gesang weiter. Der Mensch kann aber nicht Frieden schließen mit Gott. Zu viel ist noch zu bereden. In einem flackernden Scherzo wie aus einer Sinfonie Gustav Mahlers befragt der Mensch Gott zu dem, was dieser auf Erden geschaffen habe, und stellt ihm das Reich des Menschen gegenüber: das, was die Menschen geschaffen haben. Ironisch preist der Mensch seinen eigenen, geheiligten Namen. Diese Passage wurde nach ersten Aufführungen der Sinfonie missverständlich als Blasphemie kritisiert. Doch die Musik sagt etwas anderes. Unmittelbar nach der Selbstpreisung des Menschen spricht dieser das Wort "Glaube" aus, und das Orchester stimmt eine beglückende, erhebende Melodie an, nunmehr frei von allen Dissonanzen.
Doch die Lage auf der Erde bleibt bitterernst. In den dritten Teil der Sinfonie führen die Blechbläser und Streicher mit brutalen Fortissimo-Sequenzen ein, die sich schwer lastend über die Welt auszubreiten scheinen. Holzbläser-Rufe wie von Einsamen aus der Wüste werden dann doch erhört, und die Streicher greifen die erhebende Melodie wieder auf. Der Mensch wünscht einen guten neuen Morgen. In der Gemeinsamkeit, im Eins von Mensch und Gott, scheine die Unsterblichkeit noch möglich zu sein. Das Orchester steigert sich in einem "Auferstehungs-Hymnus", dann setzt der Chor mit einer um Freude ringenden Fuge zum dritten "Kaddish" der Sinfonie an. Immer wieder mischen sich Klagemotive und Leidenstöne aus früheren Teilen des Werks ein. Die einzelnen Fugenfiguren scheinen einander jedoch an den Händen zu nehmen und gemeinsam in ein besseres Dasein zu tanzen. Die Dreiton-Anrufung kehrt wieder und peitscht das Gebet zu einem "Amen"-Jubel auf. Restlos wohl scheint den Betenden aber bis zum Schluss der Sinfonie nicht zu sein. Auch wenn die aktuelle Krise überwunden ist, bleibt für die Zukunft ein Rest Unbehagen.
Bernsteins "Kaddish" ist eine Sinfonie und gehört zu jener Gattung, die sich im Laufe der Epochen zum musikalischen Ort der Verhandlung der Welt entwickelt hat. Was mit Beethovens neunter Sinfonie als Appell an Menschlichkeit und Frieden auf Erden begann, mit Mahlers zweiter und achter Sinfonie hymnisch zur Auferstehung und Erlösung erhöht wurde, mündet Mitte des 20. Jahrhunderts in Bernsteins "Kaddish" im Ringen um den Glauben an Gott, überlagert von Zweifeln an seiner Existenz angesichts von unmittelbar zurückliegenden Katastrophen wie der Shoa und den Pogromen in Europa, den Atombomben auf Japan, den Machtkämpfen zwischen den politischen Systemen des Kapitalismus und Kommunismus - und der gerade noch verhinderten Katastrophe eines Atomkrieges als Folge der Kuba-Krise. All dem folgten der Bau der Mauer mitten durch Europa und die Ermordung des US-Präsidenten.
Als Bernsteins "Kaddish" im Dezember 1963 in Tel Aviv uraufgeführt wurde, lag die Menschheit in einer Depression, die bis heute nicht auskuriert ist. Aufführungen von "Kaddish" könnten jeden Tag stattfinden. Bei den ersten Aufführungen in den USA wurde der Sprechertext von einer Frau - Bernsteins Ehefrau, der Schauspielerin Felicia Montealegre - gesprochen. Für die europäische Erstaufführung der Sinfonie am 20. August 1977 beim Carinthischen Sommer in Villach - vier Tage nach Elvis Presleys Tod - mit dem Israel Philharmonic Orchestra und dem Wiener Jeunesse-Chor übertrug der Komponist den gekürzten Sprechertext einem Mann: dem Schauspieler Michael Wager. Das Sopransolo sang damals Montserrat Caballé. Vor der Schlussfuge fügte Bernstein eine neu hinzu komponierte Passage in die Sinfonie ein, in der jene erhebende, Hoffnung gebende Melodik von unheimlichen, bedrohlichen, tiefen Klängen unterlegt ist. Diese revidierte Fassung dirigierte Bernstein auch bei der "Journey for Peace" 1985 in der Wiener Staatsoper, außerdem in Athen, in Budapest und in Hiroshima als Gedächtnisaufführung zum 40. Jahrestag des Abwurfs der ersten Atombombe durch die US-Luftwaffe. Da war die Sinfonie Totengebet und Friedensgebet in einem.
Die drei "Kaddish"-Teile legte Bernstein in der traditionellen Form einer viersätzigen Sinfonie an. Der erste Satz besteht aus der langsamen Einleitung mit der ersten Anrufung und dem darauf folgenden Allegro-Hauptsatz mit dem ersten "Kaddish". Den zweiten, langsamen Satz bilden "Din-Torah" ("Prüfung nach Gottes Gesetz") und das zweite "Kaddish". Im dritten Teil sind der dritte Satz, das Scherzo, und das Finale mit dem dritten "Kaddish" und dem Schlusschor zusammengefasst. Die Sprechertexte sind in allen Teilen melodramatisch eingewoben. Wie schon Beethovens und Mahlers Sinfonien mit Solostimmen und Chor ist auch Bernsteins "Kaddish"-Sinfonie mit Elementen der Kantate und des Oratoriums vermischt: Das Geistliche und das Weltliche fließen ineinander. "Kaddish" ist Sakralmusik für den Konzertsaal, richtet sich direkt an das Publikum. Es ist ein Dialog aller Menschen - der Menschheit - mit Gott, ein Friedensgebet über alle Ideologien und Religionen hinaus. Es ist Musik, die der Apokalypse Widerstand leistet.
Auch eine Revision des Textes, die Bernstein 1977 vornahm, konnte ihn nicht endgültig zufriedenstellen. Samuel Pisar, ein bekannter amerikanischer Völkerrechtler polnischer Herkunft und enger Freund Bernsteins, der selbst das Vernichtungslager von Auschwitz überlebt hat, hat eine dritte Textfassung vorgelegt. 2003 wurde sie beim Ravinia-Festival in Chicago uraufgeführt und erlebte in Luzern ihre europäische Erstaufführung. Im Gegensatz zu Bernsteins Original thematisiert Pisar die Trauer um die Opfer der Shoa sehr deutlich. Geht es bei Bernstein noch um die grundsätzliche Auseinandersetzung des Menschen mit Gott und dem eigenen Glauben, so rückt bei Pisar die Trauer im Gedenken an die von den Nationalsozialisten ermordeten Juden ins Zentrum.
Das Stück gerät zur bitteren Anklage an den ungerechten Gott, der so etwas zulassen konnte, um im Finale angesichts der vielen wunderbaren Dinge, die Gott geschaffen hat, doch in der versöhnlichen Lobpreisung des Herrn zu enden. Die Sinfonie erhält dadurch oratorische, ja im spannungsvollen Wechsel von Sopran-Solo, Chor und Sprecher sogar theatralische Züge, was bei Leonard Bernstein allerdings kaum verwundert. Im Grunde seines Herzens blieb dieser nämlich immer und in erster Linie ein Musikdramatiker - so wie er es selbst einmal treffend formulierte: "Jedes Werk, das ich schreibe, für welches Medium auch immer, ist in Wirklichkeit in irgendeiner Weise Theatermusik."
Aus der bereits erwähnten "Journey for Peace" stelle ich Ihnen heute zwei Mitschnitte mit dem Komponisten am Pult zur Auswahl - es musizieren Barbara Hendricks, Michael Wager, der Wiener Jeunesse Chor, der Kyoto Echo Choir und das European Community Youth Orchestra. Hier der Mitschnitt aus der Yubin Chokin Hall in Hiroshima vom 6. August 1985:
Dieselbe Besetzung war am 11. August 1985 in der Wiener Staatsoper zu erleben (mit Ausnahme des Nyiregyhaza Boy's Choir, der hier zu hören ist):
Eine Aufführung mit deutschem Sprechertext fand im Baudenkmal Alte Schmelz in St. Ingbert am 9. Mai 2009 im Rahmen der Musikfestspiele Saar statt mit Juliane Banse, August Zirner, dem Koreanischer Nationalchor und der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern unter der Leitung von Christoph Poppen:
Zuletzt noch die Fassung mit dem aktualisierten Text von Samuel Pisar vom 13. Juni 2014 in der Frankfurter Alten Oper mit Pavla Vykopalová, Samuel Pisar, dem Tschechischen Philharmonischen Chor Brno, den Limburger Domsingknaben und dem hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von Eliahu Inbal:
Mit der Hoffnung auf Frieden wünsche ich Ihnen allen einen schönen Jahreswechsel mit guten Wünschen für das neue Jahr 2024!
Matthias Wengler