in der 168. Ausgabe dieser Reihe habe ich Ihnen von einem Schicksalstag aus meinem Leben berichtet - ein weiteres Datum kann ich heute in dieser Ausgabe nennen, denn das dazugehörige Musikstück passt besonders gut zum Pfingstfest.
Am 5. Februar 1994 habe ich zum ersten Mal ein Konzert der Berliner Philharmoniker in der Berliner Philharmonie besucht. Spätestens seit diesem Tag bin ich ein begeisterter Konzertgänger, Hunderte von Konzertabenden sind bis heute allein in Berlin dazu gekommen - und auch mir fällt es mittlerweile schwer, so etwas seit Monaten nicht mehr live erleben zu können. An diesem Februar-Samstagabend wurde mir zum ersten Mal bewusst, welch ein großer Unterschied zwischen einem Orchester in der Heimatregion und einem Weltklasseorchester besteht. Salopp formuliert: Natürlich wird in der Champions' League anders Fußball gespielt als am Sonntagnachmittag auf dem Dorfplatz.
Hinzu kam bei meinem ersten Konzertbesuch in Berlin, dass ich einem wahrhaftigen Dauerklangrausch von 90 Minuten Länge ausgesetzt war, denn auf dem Programm stand Gustav Mahlers achte Sinfonie, die als Beinamen schnell den Titel "Sinfonie der Tausend" erhielt. So viele Mitwirkende wie bei der Uraufführung in München 1910 waren es zwar in Berlin nicht - aber auch rund 500 Mitwirkende können ein Publikum überwältigen. Die ersten Akkorde kann ich bis heute noch beinahe körperlich nachempfinden, so sehr hat mich dieses Klangerlebnis gepackt und beinahe vom Sitz geschleudert. Seit diesem Abend bin ich ein unheilbarer Musiksüchtiger, der das Live-Erlebnis Musik auch nach vielen Jahren noch immer sehr hoch hält. Auch dieser Newsletter kann nur im Ansatz vermitteln, was man live vor Ort empfindet.
An diesem Abend habe ich auch zum ersten Mal ein begeistertes Klassik-Publikum erlebt. 25 Minuten lang dauerte der Applaus für alle Mitwirkenden - und Claudio Abbado, der diese Mahler-Sinfonie überhaupt nur 1994 in Berlin dirigierte, wurde mit den Solisten noch lautstark vom Publikum gefeiert, als die Philharmoniker und die Chöre schon längst die Bühne verlassen hatten. Ich bin meinen Freunden, die damals unter nicht unerheblichem Aufwand Karten für dieses Konzert bekommen hatten (Kartenvorverkauf telefonisch oder gar im Internet? Fehlanzeige!), noch heute sehr dankbar für diesen unvergesslichen Abend.
Gustav Mahlers achte Sinfonie zählt zu den am größten besetzten Werken der Musikgeschichte und ist in ihrer bombastischen Wirkung vergleichbar mit Arnold Schönbergs Gurre-Liedern, die etwa zur gleichen Zeit entstanden. "Es ist das Größte, was ich bis jetzt gemacht. Und so eigenartig in Inhalt und Form, dass sich darüber gar nicht schreiben lässt. Denken Sie sich, dass das Universum zu tönen und zu klingen beginnt. Es sind nicht mehr menschliche Stimmen, sondern Planeten und Sonnen, welche kreisen", schreibt Gustav Mahler über sein Werk, das mit triumphalem Erfolg am 12. und 13. September 1910 in München uraufgeführt wurde. Hier erhielt sie auch ihren Beinamen "Sinfonie der Tausend", denn unter der Leitung des Komponisten wirkten 1.030 Personen an dieser gesungenen Sinfonie-Kantate mit.
Es war das erste Werk Mahlers, das ihm zu seinen Lebzeiten einen wirklich großen Erfolg einbrachte - ganze acht Monate vor seinem Tod. Das besondere Renommee der Sinfonie wurde aber vor allem durch die eigenartige Verknüpfung des lateinischen Pfingsthymnus "Veni, creator spiritus" mit der Schlussszene aus Goethes "Faust II" geprägt. Durch sie entsteht der eigentümliche Charakter des Werks zwischen Sinfonie, Oratorium, Musikdrama und Erlösungsmysterium. Der offensichtliche Exzess ist dieser Sinfonie wesentlich: Sie ist ein Werk, das ohne Skrupel die spirituelle Vergangenheit und die weltliche Gegenwart in einem Akt des Vertrauens auf die Zukunft miteinander verbindet. Die Musik mutet spätromantisch an, weist mit ihren nie dagewesenen Mixturen aber weit in die Zukunft.
Am 11. August 2002 führte Sir Simon Rattle das Werk mit dem National Youth Orchestra of Great Britain im Rahmen der BBC Proms in der Londoner Royal Albert Hall auf, es sangen Rosemary Joshua (Sopran), Christine Brewer (Sopran), Soile Isokoski (Sopran), Birgit Remmert (Mezzosopran), Jane Henschel (Mezzosopran), Jon Villars (Tenor), David Wilson-Johnson (Bariton), John Relyea (Bass), der City of Birmingham Symphony Youth Chorus, der London Symphony Chorus, der Toronto Children's Chorus, die Sydney Philharmonia Choirs und der City of Birmingham Symphony Chorus:
Leonard Bernstein führte Mahlers Achte 1975 bei den Salzburger Festspielen und anschließend im Wiener Konzerthaus auf, die Mitwirkenden sind Edda Moser (Sopran), Judith Blegen (Sopran), Gerti Zeumer (Sopran), Ingrid Mayr (Mezzosopran), Agnes Baltsa (Mezzosopran), Kenneth Riegel (Tenor), Hermann Prey (Bariton), Jose van Dam (Bass), die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, der Wiener Singverein, die Wiener Sängerknaben und die Wiener Philharmoniker:
Ein letzter Hinweis: Unser Orgelkonzert "Nachdenken über Bach" aus dem Kaiserdom ist mittlerweile bei youtube eingestellt und wartet auf seine Premiere. Ab 22. Mai, 18:00 Uhr, ist es unter dem folgenden Link abrufbar:
Ihnen allen ein gesegnetes Pfingstfest mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig