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31.07.2024 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 660

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

fast alle neun Sinfonien von Ludwig van Beethoven sind in dieser Reihe bereits vorgestellt worden - es fehlt noch die Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 36.

1802 befand sich Beethoven zur Kur in Heiligenstadt, von wo aus er sich schriftlich an seine Brüder wandte. Ausführlich schildert er im Brief, der als "Heiligenstädter Testament" berühmt wurde, seine Sorgen um das immer schwächer werdende Gehör, seine Einsamkeit und seine Todesgedanken. Er glaubt, das Ende seines Lebens sei nahe - und regelt zugleich seinen Nachlass (deshalb "Testament"). Zwar schickte er den Brief letztlich gar nicht ab, er wurde erst 1827 nach seinem Tod gefunden. Doch bis heute dient er als biografische Quelle von unschätzbarem Wert; der noch junge Beethoven befand sich zweifellos in einer abgründigen Situation: "... es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben." Was hielt ihn zurück? Auch darüber gibt er Auskunft: "... nur sie die Kunst, sie hielt mich zurück."

Gibt es in der Musikgeschichte einen besseren Beweis für die lebensrettende Kraft der Musik? Eine Kraft, die seither offenbar auch die Hörer erfasst hat. So schrieb der französische Literat und Musikkritiker Romain Rolland 1927: "Das Beste, das ich in mir habe, verdanke ich Beethoven. Und ich glaube, dass Tausende von Demütigen in allen Ländern gleich mir ihm Trost verdanken und Lebenskraft. Er ist das strahlende Symbol der Eintracht Europas, der menschlichen Brüderlichkeit..."

Man mag ja tatsächlich seinen Ohren kaum trauen, wenn man die zweite Sinfonie hört, die in jenen Jahren des "Heiligenstädter Testaments" und dessen Krankheits-Vorgeschichte entstand: Kaum eine wirkliche Eintrübung, kaum eine in Töne gegossene Frage nach dem Schicksal ist in der Zweiten auszumachen. Und wenn es auch mal ausdrucksstark poltert, kommt bald die Entschärfung.

Der erste Satz beginnt mit einer gewichtigen Einleitung im Adagio molto. Diese steht zwar in d-Moll, also in der Tonart der späteren Neunten. Und auch das Thema weist auf deren ersten Satz voraus. Doch ist das Gewicht hier noch nicht schicksalsschwer, sondern erscheint als angemessene Vorbereitung auf das erste Hauptthema, das die ersten Geigen bald im Allegro con brio anstimmen - und das in seiner sauberen klassischen Gestalt übrigens auch von Haydn hätte stammen können.

Der zweite Satz ist ein sanftes Larghetto im tänzerischen Dreiachteltakt. Es überwiegt der Charakter eines eher volkstümlichen Teils. Bemerkenswert ist hier jedoch, wie Beethoven die kontrastierenden Hauptthemen gegenüberstellt und so aus dem traditionell langsamen Satz einen spannenden und mitunter gar bizarren Dialog macht. Das folgende Scherzo ist eine üppige Spielwiese für den "dynamischen" Komponisten Beethoven, also den Meister der Lautstärken. Beinahe etwas ruppig stellt er Piano und Forte gegenüber. Im Dreivierteltakt experimentiert er mit leisen Stakkatovierteln und wuchtigen Paukenschlägen, mit Intervallen, die weit mehr als eine Oktave umfassen, sowie mit unerwarteten Betonungen. Das ist Musik zum Aufwachen, keinesfalls zum Einschlafen - zu energisch rüttelt Beethoven die dynamischen Hörgewohnheiten durcheinander.

Das Finale versöhnt mit einem amüsanten Ping-Pong-Spiel unter den verschiedenen Orchesterstimmen und mit Erinnerungen an die vorigen Sätze. Hier gelingt es Beethoven, sich formal von Haydn und Mozart freizuschwimmen: Er arbeitet wieder mit deutlichen Brüchen, macht aus der Coda nahezu eine zweite Durchführung und lässt den Sinfonieschluss dann doch wie mit einem Augenzwinkern strahlen. Das Werk wurde am 5. April 1803 in Wien uraufgeführt und ist dem Fürsten Carl von Lichnowsky gewidmet.

Drei Interpretationen stelle ich Ihnen heute gerne vor, zunächst das West Eastern Divan Orchestra unter der Leitung von Daniel Barenboim, aufgezeichnet am 20. Juli 2012 in der Londoner Royal Albert Hall:

www.youtube.com/watch

Zum Vergleich: Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen unter der Leitung von Paavo Järvi, aufgezeichnet in der Bonner Beethovenhalle im September 2009:

www.youtube.com/watch

Und zum Schluss noch das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Mariss Jansons, aufgezeichnet 2012 in der Suntory Hall in Tokio:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd