Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
17 Tage benötigte der Komponist nur, um unser heutiges Musikstück zu vollenden: Das Klavierkonzert Nr. 2 g-Moll op. 22 von Camille Saint-Saëns.
Der Komponist des "Karnevals der Tiere" hat ein umfangreiches Œuvre hinterlassen, dem nicht immer die Aufmerksamkeit zuteil wurde, die es verdient hätte. Zudem war er ein gefeierter Interpret an Orgel und Klavier. Im Vergleich zu den anderen großen Komponisten-Pianisten der Musikgeschichte schrieb Saint-Saëns jedoch nur sehr wenige bedeutende Stücke für Klavier solo, sondern zog es vor, das Instrument in musikalische Dialoge einzubinden, sei es in der Kammermusik oder in konzertanten Werken.
„Der Solopart eines Konzerts ist eine Rolle, die wie eine dramatische Figur konzipiert und gespielt werden muss“, schrieb er 1904. Als Feind pianistischer Selbstdarstellung und des „Concerto brillant“ bevorzugte er Werke, in denen Ausgeglichenheit sowie Sinn für Maß und Schönheit im Vordergrund stehen. Virtuosität ist ihnen nicht fremd, doch ist sie nie Selbstzweck, sondern vielmehr eine weitere Facette, die es „einem Interpreten ermöglicht, seine Persönlichkeit auszudrücken - etwas Unschätzbares, sofern diese Persönlichkeit von Interesse ist.“
Obwohl heute das populärste unter den insgesamt fünf Klavierkonzerten von Saint-Saëns, hatte das zweite Klavierkonzert einen schwierigen Start. In seinen autobiografischen Portraits und Erinnerungen berichtet der Komponist über die Umstände der Entstehung und der Uraufführung im Mai 1868: "Anton Rubinstein und ich standen eines Tages im Foyer der Salle Pleyel, wo wir ein - ich weiß nicht welches - Konzert besuchten, als er zu mir sagte: „Ich habe in Paris noch kein Orchester dirigiert; geben Sie doch ein Konzert, damit ich Gelegenheit habe, zum Taktstock zu greifen! - Mit Vergnügen.“ Wir fragten, an welchem Tag der Saal frei wäre, und erfuhren, dass dies in drei Wochen der Fall sein würde. - „Drei Wochen bleiben uns noch“, sagte ich zu ihm, „das ist gut; ich werde für diesen Anlass ein Konzert schreiben“. Und ich schrieb das g-Moll-Konzert, das seine Premiere mithin unter illustrer Schirmherrschaft erlebte. Weil keine Zeit für eine ordentliche Einstudierung blieb, spielte ich es sehr schlecht, und mit Ausnahme des Scherzos, das auf Anhieb gefiel, war ihm wenig Erfolg beschieden; man war sich einig, dass der erste Satz unzusammenhängend und das Finale völlig misslungen sei.
Es „beginnt mit Bach und endet mit Offenbach“, kommentierte ein Zuhörer und meinte das nicht als Kompliment. Franz Liszt, der dem Konzert beiwohnte, war anderer Ansicht und erkannte das Potenzial des Werks. Im Jahr darauf schrieb er an Saint-Saëns: „Ich möchte Ihnen noch für Ihr zweites Konzert danken, das ich mit großem Beifall begrüße. Die Form ist neu und sehr gelungen; das Interesse an den drei Sätzen wächst stetig, und Sie tragen dem pianistischen Effekt angemessen Rechnung, ohne die kompositorischen Ideen irgend zu opfern - eine wichtige Grundregel bei Werken dieser Gattung.“
Das Konzert weicht von der herkömmlichen Form ab: Es verzichtet auf einen langsamen Satz und enthält stattdessen drei zusehends beschleunigte Sätze (Andante sostenuto, Allegro scherzando und Presto). Als weitere Besonderheit beginnt das Konzert direkt mit einer Solokadenz anstatt mit dem traditionellen, für das Konzert des 19. Jahrhunderts typischen Orchesterritornell. Diese Kadenz, die an Bachs Toccaten erinnert, ähnelt in ihrem Umfang einer Improvisation auf der Orgel - Saint-Saëns‘ anderem Instrument -, was sich dadurch erklären lässt, dass die Originalfassung des Konzerts das Pedalklavier vorsah. Das Hauptthema greift ein verschollenes Tantum ergo für Gesang und Orgel von Gabriel Fauré auf, der damals ein junger Schüler von Saint-Saëns war. Fauré war mitnichten empört über diese Anleihe seines Lehrers, sondern erklärte später, dass er sich sehr geehrt gefühlt habe.
Der zweite Satz, der als Scherzo fungiert, erinnert an ein berühmtes Pendant: das „Elfen“-Scherzo aus Mendelssohns Sommernachtstraum. Dieser Satz war der einzige, der bei der Uraufführung stürmischen Applaus erntete. Auch das Finale zeigt den Einfluss Mendelssohns: Eine neapolitanische Tarantella in einer Molltonart lässt an die ebenfalls in Moll gehaltene Tarantella denken, mit der die „Italienische“, Mendelssohns vierte Sinfonie, endet. Wie es sich gehört, beschließt der Satz das Werk mit Verve, Fantasie und Virtuosität.
Saint-Saëns spielte sein Konzert im selben Jahr noch einmal in Leipzig und Paris, und schließlich entwickelte es sich zu einem Erfolgsstück. Ein begeisterter Kritiker schrieb: „Welche Originalität, welches Leben, welche Kraft, welcher Schwung, welche Farbe zeigt dieses Werk!“
Eine legendäre Aufnahme empfehle ich Ihnen heute zunächst. Mit 88 Jahren zeigte Arthur Rubinstein keine Anzeichen dafür, dass er seine Qualität der „Joie de vivre“, mit der er das Publikum fast 75 Jahre lang faszinierte, verloren hätte. Der wahre Rubinstein-Klang, klangvoll in jeder Tonhöhe, war seit jeher eines der charakteristischen Merkmale seines Spiels. Rubinsteins Aufführung von Saint-Saëns‘ zweitem Klavierkonzert, begleitet vom London Symphony Orchestra unter André Previn, ist ein perfektes Zeugnis seiner Vorstellung von einem singenden Ton. Abwechselnd vital und poetisch, extrovertiert und nachdenklich, rhapsodisch und souverän ist diese Aufführung, die im April 1975 in der Croydons Fairfield Hall aufgezeichnet wurde; Rubinstein ist hier in seiner warmherzigen, lyrischen Bestform. Sein New York-Debüt gab Rubinstein übrigens mit dem Saint-Saëns-Konzert in der Carnegie Hall am 8. Januar 1906:
Unter den jungen Pianisten der heutigen Generation zählt Alexandre Kantorow zweifelsohne zu den starken Vertretern, insbesondere bei den Saint-Saëns-Klavierkonzerten. Alexandre Kantorow ist hier mit dem Orchestre de Douai-Région Hauts-de-France unter der Leitung von Jean-Jacques Kantorow zu erleben, der Mitschnitt entstand am 21. März 2021:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler