Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
ein besonderes Werk von Hector Berlioz steht an diesem Wochenende im Mittelpunkt: Die auf Goethes "Faust" basierende dramatische Legende "La Damnation de Faust", die 1846 in Paris uraufgeführt wurde.
Wie so vieles von Berlioz sprengt auch dieses Werk alle Gattungsgrenzen. Den einen gilt "La damnation de Faust" als Oper, anderen als Oratorium, den Dritten als Chorsinfonie. Berlioz selbst bezeichnete das Werk an der Schnittstelle zwischen Sinfonie und Oper als "dramatische Legende“. Mal wird das Werk konzertant, mal szenisch gezeigt. Doch egal wie - es ist in jeder Form ein höchst eindrucksvolles und klangmächtiges Chorstück. In "La Damnation de Faust" geht es weniger um die philosophische Dimension des Stoffes als um Leidenschaft, Konflikte und eben die effektvolle Verdammnis des Protagonisten. Klangmagier Hector Berlioz schafft hier ein suggestives, imaginäres Musiktheater. Nicht zuletzt durch den berühmten Rákóczi-Marsch erlangte das Stück große Beliebtheit und genießt bei vielen Musikliebhabern geradezu Kultstatus. Diesen Marsch gibt es hier vorab als "Appetizer" mit dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von Sir Simon Rattle, aufgezeichnet 2018 im Londoner Barbican Center:
Für "La Damnation de Faust" schuf Hector Berlioz einen eigenen Text, der in Shakespearescher Manier Leidenschaft und Groteske der handelnden Akteure in den Mittelpunkt rückt: "Ich hatte mich nicht dazu verpflichtet, Goethes Plan zu folgen." So erscheint in diesem Werk Faust als byronscher Melancholiker, dem einzig die im Titel erwähnte Verdammung bleibt. Nicht an ihm, sondern an Marguerite entzündete sich Berlioz’ kompositorische Fantasie, ebenso wie an den Genrebildern wie der Studentenszene, die musikalisch großen Raum einnimmt.
Dabei erweist sich die Partitur als wahre Fundgrube charakteristischer Instrumentalfarben, die Berlioz (kurz zuvor hatte er seinen berühmten "Grand Traité d’instrumentation et d’orchestration modernes" fertiggestellt ) einmal mehr als brillanten Meister der Instrumentationskunst ausweisen - etwa, wenn die sonst vernachlässigten Bassregister der Bläser der Sphäre von Méphistophélès einen schaurig-düsteren Ton verleihen oder die Ballettnummern mit äußerst delikaten Holzbläsersätzen versehen werden.
Auf den Bühnen Frankreichs war „Faust“ im 19. Jahrhundert ein Dauergast, allerdings war er nicht nur der Verdammte, sondern manchmal auch der gelangweilte Dandy. Auch Hector Berlioz war im Faust-Rausch. Er vertont 1829 einige Szenen in einer Schauspielmusik und schickt zwei Exemplare dem verehrten Dichter.
Doch Goethe bittet Carl Friedrich Zelter um sein Urteil: Dem gefielen die Entwürfe nicht. Und so ließ auch Goethe davon ab. Berlioz jedoch ließ der Faust-Stoff nicht los. Allerdings dauerte es über zwei Jahrzehnte, bis er sich 1846 dem „Höllendrama“ noch einmal zuwandte. Gemeinsam mit dem Schriftsteller Almire Gandonniere verfasste er dazu den Text. Berlioz komponierte die dramatische Legende wie im Rausch. Ganz glücklich war er mit den vier Teilen, die stilistisch zwischen allen nur möglichen Stühlen sitzen, aber nicht. Finanziell trieb ihn diese Arbeit fast in den Ruin, denn nach drei Tagen schon wurde das Stück abgesetzt.
Heute fasziniert an den Werken von Hector Berlioz vor allem das, was bei seinen Zeitgenossen Irritationen und Ablehnung auslöste - das Ungezügelte, Ausufernde seiner Fantasie. Sein Wesen prädestinierte ihn gerade für die Auseinandersetzung mit dem als hochromantisch empfundenen Faust-Stoff. „Höllenritt", „Chor der Höllengeister" und „Marguerites Verklärung" griff er in seiner Faust-Adaption wieder auf. Mit grandiosem Orchesterapparat und großartigen Chorszenen vermochte er, Visionen des Infernalischen und sphärenhafte Klänge zu erzeugen.
So frei er mit dem Handlungsgerüst von Goethes Dichtung auch umging, dem Geist des Werkes fühlte er sich verpflichtet: die Sinnsuche des Menschen zwischen Lebensgier, Berufung und Moral. Auch Berlioz' Faust erwacht mit der frühlingshaften Natur zu neuem Leben, bis er durch eine kriegerische Szenerie aus seinem Überschwang in Depressionen verfällt. Erst ein Osterchoral wandelt seine Traurigkeit in freudige Erwartung und macht ihn bereit für Mephistos Angebot, ihm die „wahrhaftige Welt" zu zeigen. Nach dem Besäufnis in Auerbachs Keller weckt der große Verführer Mephisto in Faust die Sehnsucht nach der schönen jungen Marguerite. Fausts Verlangen wird so stark, dass er sich nun uneingeschränkt der Führung Mephistos ausliefert. Die ausführliche Handlung finden Sie auch heute wieder am Ende dieser Ausgabe.
Zu Lebzeiten des Komponisten ist das unkonventionelle und teils surreale Werk nie szenisch aufgeführt worden, überhaupt und erstmals gut ein Vierteljahrhundert nach dessen Tod, 1893 in Monte Carlo. In der heutigen Aufführungspraxis wird das Stück meist rein konzertant zu Gehör gebracht, was der eigentlichen Intention des Komponisten entspricht, weil es laut Berlioz, „so viele unterschiedliche Realitätsebenen aufweist“.
Zwei Aufführungen empfehle ich Ihnen heute sehr gerne - zunächst eine konzertante Aufführung von den BBC Proms vom 28. August 1989 in der Londoner Royal Albert Hall mit Anne Sofie von Otter (Marguerite), Keith Lewis (Faust) und José van Dam (Mephistopheles) in den Hauptpartien, es musizieren der Chicago Symphony Chorus, der Chor der Westminster Cathedral und das Chicago Symphony Orchestra unter der Leitung von Sir Georg Solti:
Und hier noch eine Inszenierung von Roland Aeschlimann im Brüsseler Opernhaus La Monnaie in Brüssel aus dem Jahr 2002 mit Susan Graham (Marguerite), Jonas Kaufmann (Faust) und José van Dam (Mephistopheles) in den Hauptpartien sowie dem Chor und Orchester der Opéra La Monnaie unter der Leitung von Sir Antonio Pappano:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Urlaubsgrüßen von der Nordsee
Matthias Wengler
Handlung
Erster Teil
Faust sehnt sich nach Ruhe und Frieden und begrüßt freudig den erwachenden Frühling. Die tanzenden Bauern singen frohe Lieder, Soldaten, dürstend nach Ruhm und Ehre, ziehen vorbei. Faust steht solchem Tun verschlossen und kalt gegenüber.
Zweiter Teil
Faust ist des Lebens überdrüssig in sein Studierzimmer nach Deutschland zurückgekehrt; frohe Ostergesänge hindern ihn am Selbstmord. Mephisto erscheint und verspricht ihm die Erfüllung aller Wünsche, Macht, Glanz und ewige Jugend. Er führt ihn zu trinkenden Studenten in Auerbachs Keller. Faust gefällt dieses Treiben nicht. Mephisto führt ihn an die Elbe und lässt das wunderschöne Bild von Margarethe erscheinen. Faust verlangt, sie zu sehen, und kommt vor ihr Haus. Durch die nächtliche Stadt wandern, singend und scherzend, Soldaten und Studenten.
Dritter Teil
Faust betritt entzückt Margarethes Zimmer und wird von Mephisto, der sieht, dass sie heimgekehrt ist, hinter einem Vorhang versteckt. Margarethe kommt und denkt sehnsüchtig an den im Traum gesehenen Geliebten. Mephisto verzaubert die Szene durch Geister und Irrlichter. Margarethe, die zu träumen glaubt, sieht Faust und gibt sich ihm hin. Die Nachbarn sind durch das Ständchen Mephistos wach geworden, bemerken, dass jemand bei Margarethe ist, und spotten. Mephisto und Faust fliehen. Faust verspricht, am folgenden Tag wiederzukommen.
Vierter Teil
Margarethe sehnt sich nach Faust, der sein Versprechen gebrochen und sie verlassen hat. Auch Faust, weit entfernt, denkt an Margarethe. Mephisto teilt ihm mit, dass er ihr für die Mutter einen Schlaftrunk gegeben hat, der Gift enthielt. Margarethe ist wegen Mordes zum Tode verurteilt worden und erwartet im Kerker ihre Hinrichtung. Faust beschwört Mephisto, sie zu retten, und verspricht ihm dafür seine Seele. Beide jagen auf Geisterpferden in die Nacht und werden von der Hölle verschlungen, während Margarethe in den Himmel entrückt wird.