Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
diese Woche verbringe ich in der Musikstadt Wien - und halte mich daher etwas kürzer als sonst. Eines der beliebtesten Zugabenstücke der Musikgeschichte erwartet Sie in der heutigen Ausgabe: Die Méditation aus der Oper "Thaïs" von Jules Massenet.
Als Jules Massenet im März 1894 seine neueste Oper "Thaïs" im Pariser Palais Garnier vorstellte, waren die Meinungen in Publikum und Kritik geteilt. Zwar hatte die Romanvorlage von Anatole France 1890 größtes Aufsehen erregt, auf der Opernbühne aber wollten die Pariser den Stoff zunächst nicht hinnehmen. Zu schwülstig erschien ihnen die Wandlung der berühmten Hetäre Thaïs zur geläuterten Christin im Alexandria der Spätantike.
Bei einem Stück der Partitur allerdings waren sich alle Zuhörer einig: bei der Méditation, jenem Violinsolo mit Orchesterbegleitung, das Massenet zwischen die beiden Bilder des zweiten Aktes gestellt hatte. Es symbolisiert das Aufkeimen der christlichen Läuterung in der Seele der Thaïs, ausgedrückt im sentimentalsten Stil des Fin de Siècle. Der erste, der die Wirkung dieses Stückes erkannte, war der Soloflötist der Pariser Oper, Paul Taffanel. Er brachte gleich nach der Uraufführung eine Bearbeitung für Flöte und Klavier heraus, noch bevor seine Geigerkollegen reagierten und die Méditation zu dem machten, was sie heute ist: der erfolgreichste Konzerttitel von Jules Massenet und eine der beliebtesten Zugaben für Geigenvirtuosen auf der ganzen Welt.
Drei Versionen stelle ich Ihnen heute gerne zur Auswahl, zunächst Emmanuel Tjeknavorian (den ich morgen Abend als Dirigenten in Wien mit einem Beethoven-Programm erleben darf) mit dem hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von Alain Altinoglu, aufgezeichnet in der Frankfurter Alten Oper am 25. November 2022:
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www.youtube.com/watch
Zum Vergleich: Renaud Capuçon, begleitet von der Harfenistin Anne-Sophie Bertrand, aufgezeichnet am 10. Juni 2022 in der Frankfurter Alten Oper:
Und zuletzt noch eine Mitschnitt aus der Berliner Philharmonie vom November 2014 mit Janine Jansen und dem Deutschen Symphonieorchester Berlin unter der Leitung von Tugan Sokhiev:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Urlaubsgrüßen aus Wien
Matthias Wengler