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18.09.2023 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 530

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

mit rund 50 Minuten ist es eines der längsten Violinkonzerte der Musikgeschichte: Edward Elgars Violinkonzert h-Moll op. 61.

Als der weltweit gefeierte Geigenvirtuose Fritz Kreisler 1905 in London gastierte, gab er ein Zeitungsinterview und erstaunte die Leser:innen mit folgenden Worten: "Wenn Sie wissen wollen, wen ich für den größten lebenden Komponisten halte, sage ich ohne zu zögern Elgar... Ich stelle ihn meinen Idolen Beethoven und Brahms gleich. Er stammt aus derselben aristokratischen Familie." Zwei Jahre später bat Kreisler den von ihm so Verehrten persönlich, ein Violinkonzert für ihn zu komponieren. Elgar fühlte sich geschmeichelt, und so konnte Kreisler am 4. November 1910 als Solist in der Londoner Queen's Hall die Uraufführung unter der Leitung des Komponisten spielen. Das Werk fand begeisterte Zustimmung und wurde bald wiederholt. Kreisler spielte es in ganz Großbritannien, mit Elgar oder Henry Wood als Dirigenten.

Das Werk ist offiziell Fritz Kreisler gewidmet, aber eine verborgene Widmung wirft ein typisch Elgarsches Rätsel auf. Gegenüber der ersten Partiturseite schrieb Elgar ein Zitat (aus Alain-René Lesages Roman "Gil Blas") auf Spanisch: “Aquí está encerrada el alma de ..…” (“Hier liegt begraben die Seele von ..…”). Die fünf Punkte waren absichtlich eingefügt. Elgar gestand, dass diese Seele weiblich war, weigerte sich jedoch, mehr dazu zu sagen, außer dass “darin eine Menge encerrada (begraben) ist - mehr, als die Öffentlichkeit je erfahren wird!” Elgars Briefe lassen erkennen, dass das Konzert eng mit Alice Stuart Wortley, der Tochter des Malers John Everett Millais und zugleich Elgars Muse zwischen 1907 und etwa 1920, verbunden ist. Er bezeichnet mehrere der Themen als “Windblüten"-Themen - sein intimer Beiname für sie war “Windflower” - und in seinen Briefen nennt er das Werk “unser eigenes Konzert”. Doch es gibt noch andere Anwärterinnen. Elgar nahm das Geheimnis mit ins Grab, doch die Musik ist voller Bedauern um das, was hätte sein können.

Vielleicht ist es Zufall, dass Elgars Violinkonzert wie dasjenige Beethovens die Opuszahl 61 trägt. Doch steht das Werk zweifellos in der großen klassisch-romantischen Tradition deutscher Violinkonzerte. Die Tonart h-Moll verweist ebenfalls auf die D-Dur-Tonart der Violinkonzerte von Beethoven und Brahms, handelt es sich bei h-Moll doch um die zu D-Dur gehörige Molltonart. Darüber hinaus gibt es Anklänge an Brahms in Elgars Konzert. Schon der tragische, herbe Ton, den das Hauptthema des ersten Satzes anschlägt, gemahnt an ähnliche Stimmungen Brahmsscher Musik, und das innige B-Dur-Thema des zweiten Satzes beginnt genauso wie das Hauptthema des langsamen Satzes von Brahms‘ zweitem Klavierkonzert. Fast scheint es also, dass Kreislers Urteil, er stelle Elgar als Komponist auf dieselbe Stufe wie Beethoven und Brahms, Elgars Inspiration bei der Entstehung des Werkes in besonderer Weise gelenkt habe. Das zeigt sich auch darin, wie er das Zusammenspiel von Solo und Orchester hier auffasst. Wie das Violinkonzert von Brahms hat nämlich auch das Elgarsche Werk den Charakter einer Sinfonie für Solovioline und Orchester. Die Solovioline nimmt gleichberechtigt an der Formulierung der thematischen Einfälle teil. Auch dort, wo sie Orchestermelodien umspielt, verstärken ihre Figuren den dramatischen oder lyrischen Charakter der jeweiligen Stelle. Nur selten, etwa gegen Ende des ersten Satzes, hat der Solist - etwa beim anspruchsvollen geigerischen Passagenspiel - die Möglichkeit, virtuos in den Vordergrund zu treten.

Dass das klangsüffige Werk weniger populär ist als Elgars Cellokonzert, liegt vor allem an seiner Spieldauer von rund 50 Minuten – eine Parforcetour für die Solist:innen: technisch, gestalterisch und rein konditionell.

Zwei Mitschnitte stelle ich Ihnen heute zur Auswahl - zunächst mit Nigel Kennedy, der Ende der Achtziger Vivaldis Vier Jahreszeiten mit seiner Interpretation revolutionierte. Im Rahmen der BBC Proms spielte er Elgars Violinkonzert am 19. Juli 2008 mit dem BBC Concert Orchestra unter der Leitung von Paul Daniel:

www.youtube.com/watch

Der zweite Mitschnitt kommt aus der Berliner Philharmonie - Renaud Capuçon musizierte das Elgar-Konzert am 13. Januar 2017 mit dem Deutschen Symphonieorchester Berlin unter der Leitung von Robin Ticciati:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd