Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
offiziell sind von Peter Tschaikowsky sechs Sinfonien bekannt - dennoch: es existiert noch eine weitere. Sie wird nicht zu den sechs Sinfonien dazugezählt und ist nur selten im Konzertsaal zu erleben: Die "Manfred"-Sinfonie h-Moll op. 58.
Ende Oktober 1884. Peter Tschaikowsky reist nach Davos. Der Geiger Josif Kotek, ein enger Freund Tschaikowskys, ist so schwer erkrankt, dass mit seinem baldigen Tod zu rechnen ist. Voller Trauer erinnert sich der Komponist in der alpinen Landschaft an ein Sujet, das ihm sein Kollege Mili Balakirew zur Vertonung vorgeschlagen hat: das dramatische Gedicht "Manfred" von Lord Byron. Darin flieht der Held in die Alpen, nachdem sein inzestuöses Verhältnis zu seiner Halbschwester Astarte bekannt geworden ist. Aus diesem Stoff gestaltet Tschaikowsky im Jahr darauf eine groß angelegte Programmsinfonie in der Nachfolge von Franz Liszts "Dante"- und "Faust"-Sinfonien sowie Hector Berlioz’ "Roméo et Juliette" und "Harold in Italien".
In Manfred, dem gesellschaftlich Geächteten, findet Tschaikowsky eine starke Identifikationsfigur. Und so hat er mit dieser Sinfonie eine seiner emotional intensivsten Partituren geschaffen. Er selbst hat dem Werk ein Programm beigegeben. Im ersten Satz "irrt Manfred in den Alpen umher. Sein Leben ist zerschlagen, viele brennende Fragen bleiben unbeantwortet, nichts ist ihm geblieben außer den Erinnerungen. Die Gestalt der idealen Astarte schwebt ihm durch die Sinne, vergebens ruft er nach ihr, nur das Echo der Felsen wiederholt ihren Namen. Gedanken und Erinnerungen quälen ihn, er sucht Vergessen, das ihm niemand geben kann." Das Scherzo stellt eine konkrete Szene dar: "Die Alpenfee erscheint vor Manfred unter dem Regenbogen eines Wasserfalls." Der langsame Satz schildert das "schlichte, freie und friedliche Leben der Bergbewohner". Manfred hat die Hoffnung, hier zur Ruhe zu kommen. Aber, so spiegelt es die Musik, er bleibt innerlich zerrissen. Das imposante Finale beschreibt Tschaikowsky so: "Der unterirdische Palast des Ariman. Manfred erscheint inmitten des Bacchanals. Anrufung des Schattens der Astarte. Sie weissagt ihm das Ende seiner irdischen Leiden. Manfreds Tod." Die Schlussapotheose macht es deutlich: Letztlich findet Manfred seinen Frieden.
1885 schrieb Peter Tschaikowski an seine Vertraute Nadeshda von Meck: "Ich arbeite an einem komplizierten sinfonischen Werk, dessen Inhalt dermaßen tragisch ist, dass auch ich mich langsam in einen Manfred verwandle.“ Ein klares Bekenntnis. Durch seine Auseinandersetzung mit Lord Byrons dramatischem Gedicht „Manfred“ fühlte sich der Komponist mehr und mehr als Geistesverwandter der Titelfigur: ein einsamer Grübler auf den Spuren von Goethes „Faust“.
Unser heutiger Konzertmitschnitt kommt von den BBC Proms aus der Londoner Royal Albert Hall. Vladimir Jurowski dirigierte am 18. August 2012 das London Philharmonic:
Zum Vergleich noch ein Mitschnitt aus der Oslo Concert Hall vom 27. Februar 1986 mit dem Oslo Philharmonic unter der Leitung von Mariss Jansons:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Urlaubsgrüßen von der Nordsee
Matthias Wengler