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06.06.2025 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 781

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

ein besonderes Chorwerk möchte ich Ihnen in der heutigen Ausgabe vorstellen. "A Child of Our Time" von Sir Michael Tippett.

Mit der Uraufführung seines Oratoriums "A Child of Our Time" erlebte Michael Tippett 1944 seinen Durchbruch als Komponist. Tippett hat sein dreiteiliges Oratorium für Chor, Orchester und Solostimmen 1939-1941 komponiert. Der Titel - deutsch: „Ein Kind unserer Zeit“ - bezieht sich auf die Person des 17-jährigen jüdischen Jungen Herschel Grynszpan, der am 9. November 1938 ein Attentat auf den deutschen Botschaftsrat Ernst vom Rath verübt hat. Die Nazis nahmen dies zum Anlass für die Pogrome gegen die jüdische deutsche Bevölkerung, die „Reichskristallnacht“. Tippett hatte im britischen Ausland durch die Medien von dem Attentat und den Pogromen erfahren und reagierte darauf unmittelbar mit der Komposition dieses Oratoriums. Er reflektiert die Hintergründe und Motive von Grynszpans Tat und ihre Konsequenzen.

Die Komposition bot dem Komponisten ein kreatives Ventil für seinen Pazifismus (später wurde er als Kriegsdienstverweigerer inhaftiert). Im Mittelpunkt des Oratoriums stehen die fünf Negro Spirituals, die eine ähnliche Funktion haben wie die Choräle in Bachs Passionen. 1958 löste Tippett die Spirituals aus dem Oratorium und komponierte sie neu für reine Gesangsstimmen. Die Genialität dieser Bearbeitungen liegt in Tippetts Fähigkeit, Orchesterbegleitungen als Gesangslinien wirken zu lassen. Die Wirkung ist großartig, da Tippett die Direktheit des Ausdrucks der Spirituals beibehält und sie gleichzeitig liebevoll mit musikalischen Gesten ausstattet, die sehr typisch für seine Zeit sind.

Wenige Tage nach den Terror-Anschlägen am 11. September 2001 in New York dirigierte Leonard Slatkin vier Spirituals in der Last Night of the Proms in der Londoner Royal Albert Hall. Slatkin, damals Chefdirigent des BBC Symphony Orchestra, hatte das Gefühl, dass er die üblichen „Last Night“-Rituale nicht leiten könne, da so viele seiner amerikanischen Landsleute gerade ihr Leben verloren hatten. Daher wurde das Programm geändert, um dieser besonderen Stimmung Rechnung zu tragen: 

www.youtube.com/watch

Zum Vergleich: Der Choeur de Radio France unter der Leitung von Sofi Jeannin mit den Fünf Negro Spirituals aus "A Child of our Time". Der Mitschnitt entstand am 14. Januar 2018 im Pariser Auditorium de la Maison de la Radio:

www.youtube.com/watch

Zurück zum Oratorium: Die Grundlagen von "A Child of Our Time" legen Händels "Messias" und die Passionen Bachs, indem Messias Vorbild für die formale Gestaltung und Bach mit seinen musikalischen Formen wie vier- bis achtstimmige Chöre Einzug erhält. Damit gleicht "A Child of Our Time" einem barocken Oratorium, das jedoch eine besondere Eigenheit aufweist: Anstelle der Choräle stehen fünf Spirituals, die Michael Tippett bewusst so gestaltete, dass die Zuhörer sie mitsingen können würden.

Der Eingangschor steigt direkt in die düstere Stimmung des Werkes ein. Es ist Winter, und die Kälte der Jahreszeit wird mit dem seelenlosen Zustand der Welt in Verbindung gebracht. Dieses Zusammenspiel wirft die Frage nach dem Verhältnis von Gut und Böse und Vernunft und Irrtum auf, die sich wie ein roter Faden durch das ganze Oratorium zieht. Während der erste Teil von Hoffnungslosigkeit, Verlust und existenzieller Gefährdung mit kurzen Hoffnungsschimmern geprägt ist, handelt der zweite Teil von den Folgen des Attentats. Das Kind unserer Zeit tritt in den verfolgten Juden und den Grausamkeiten der Nationalsozialisten auf die Bühne und bündelt mahnend Michael Tippetts Kritik an den Zuständen der Gesellschaft. Der „Sündenbock“, die von allen Bürgern abgelehnten Juden, findet nirgendwo Zuflucht und wird für alle politischen und gesellschaftlichen Missstände verantwortlich gemacht. Die Bürger werden durch den „Chor der Selbstgerechten“ verkörpert, der in kunstvollen traditionellen Spirituals die Aufnahme und den Schutz aller Juden ablehnt. Fraglich sind im dritten und letzten Teil des Oratoriums letztlich die Konsequenzen, und welche Schlüsse aus den Geschehnissen gezogen werden können. Die Erlösung liegt mit dem Schlüssel der Hoffnung in der Aussicht auf bessere Tage nach den unfassbaren Gräueltaten der Nationalsozialisten. Das Kind unserer Zeit, die Früchte des Nationalsozialismus, würden von Gott überwunden werden.

Die universelle Gültigkeit von Libretto und Musik heben "A Child of Our Time" besonders hervor und geben dem Werk eine einzigartige emotionale Kraft. Das Libretto hat Tippett selbst verfasst; es spiegelt nicht nur seine politische Überzeugung, sondern auch seine Beschäftigung mit der analytischen Psychologie C. G. Jungs und den Einfluss seines Mentors, des späteren Literaturnobelpreisträgers T. S. Eliot. Die Musik ist in der Tonsprache modern, aber trotzdem fasslich, und zwar vor allem dadurch, dass Tippett in sein Werk an zentralen Stellen fünf schlichte, jedoch darum umso bewegendere Spirituals eingefügt hat. Die Spirituals, die im 19. Jahrhundert in den USA als verschlüsselter Protest gegen die Sklaverei entstanden waren, erhalten bei Tippett die universale Bedeutung der Auflehnung gegen jedwede Unterdrückung. 

Als zusätzliche Einführung in das Werk empfehle ich gerne ein Gespräch das Simon Rattle mit Andrew Sachs 1995 anlässlich einer Aufführung in Birmingham geführt hat: 

www.youtube.com/watch

Zum Abschluss noch die komplette Aufführung des Oratoriums - der Konzertmitschnitt vom 1. November 2024 aus dem Londoner Royal College of Music beginnt mit dem Violinkonzert Nr. 1 g-Moll op. 26 von Max Bruch. Es musizieren Deniz Sensoy (Violine), Pumeza Matshikiza (Sopran), Lily Mo Browne (Mezzosopran), Zwakele Tshabalala (Tenor und Jonathan Lemalu (Bass) sowie Chor und Symphonieorchester des Royal College of Music unter der Leitung von Martyn Brabbins:
  
www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd