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22.03.2024 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 605

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

in der Reihe "Letzte Werke" erwartet Sie heute mit der Violinsonate g-Moll L. 140 das letzte vollendete Werk von Claude Debussy.

Sechs Sonaten für unterschiedlichste Besetzungen hatte er schreiben wollen, sein Krebsleiden hinderte ihn jedoch daran, mehr als drei dieser "kammermusikalischen instrumentalen Wechselspiele" zu komponieren: Es entstanden eine Sonate für Violoncello und Klavier, eine zweite für Flöte, Viola und Harfe sowie die dreisätzige Sonate für Violine und Klavier.

Seit drei Jahren tobte in Europa der Erste Weltkrieg, was auch Debussys Nationalbewusstsein befeuerte. Dennoch lassen sich Einflüsse anderer Kulturen und Nationen in der Sonate finden. bspw. Anklänge an Sinti-und Roma-Musik. Sieben Jahre zuvor hatte Debussy auf einer Konzertreise in Budapest einen Sinti und Roma-Geiger kennen gelernt, der ihm Spieltechniken wie das Verschleifen von Tönen nach oben und unten nahe gebracht hatte.

So wie die erste Violinsonate von Gabriel Fauré im Zusammenhang mit dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 entstanden ist, entstand Debussys Violinsonate im Zusammenhang mit dem ersten Weltkrieg. Sie blieb sein letztes wichtiges Werk. Debussy wollte in dieser Kriegszeit als national gesinnter Komponist bewusst nicht an die klassische deutsch-österreichische Tradition anknüpfen, sondern an das französische Musikerbe, vor allem an Rameau. „Nichts kann entschuldigen, dass wir die Tradition der Werke eines Rameau vergessen haben, die in der Fülle ihrer genialen Einfälle fast einzigartig ist“, schrieb Debussy damals.
Entsprechend benutzte er ungewohnt freie Formen und schrieb trotzig aufs Titelblatt: Claude Debussy, Musicien Francais.

Claude Debussys Klangwelt ist von der javanischen und arabischen Volksmusik beeinflusst, die er auf der Pariser Weltausstellung von 1889 kennengelernt hatte. Den geheimnisvollen Anfang der Sonate könnte man kaum besser beschreiben, als in Debussys Worten: "Musik wird für das Unaussprechliche geschrieben; ich möchte sie wirken lassen, als ob sie aus dem Schatten heraus träte und von Zeit zu Zeit wieder dahin zurückkehrte; immer eine diskrete Person". Die ausgeschriebenen Portamenti und Tempowechsel sind vielleicht auf eine Begegnung von 1910 zurückzuführen, über die er schrieb: "In Budapest ein wundersamer Zigeunergeiger namens Radics, der die Musik mehr liebt als die meisten von uns. Wenn man ihn hört, vergisst man wo man ist, man atmet den Duft der Wälder und hört das Murmeln der Quellen, ein Herz, das leidet oder lacht, fast im gleichen Moment."

Aus der Rückbesinnung auf die vorklassische Musik Frankreichs erklären sich die Formen der drei o. g. Sonaten. Keine von ihnen weist die Viersätzigkeit und die Sonatenhauptsatzform der deutschen Tradition auf. Sie haben vielmehr freie Formen, die poetische Titel tragen oder auf Gattungen des Barock anspielen (Prélude). Ihr Satz ist von Klarheit, ihr Stil von Eleganz und poetischem Zauber geprägt - Eigenarten, die Debussy als typisch französisch empfand.

Man hat die Violinsonate gelegentlich für mangelnde Einheitlichkeit und Frische kritisiert, angeblich eine Folge von Debussys rapide fortschreitender Krebserkrankung, der er die Vollendung des Werkes im Frühjahr 1917 förmlich abringen musste. Andere Kommentatoren dagegen hoben die geniale Lösung des Balanceproblems zwischen Violine und Klavier hervor. Mit Recht meinte der englische Kammermusikmäzen und Geiger Walter Wilson Cobbett, Debussys Violinsonate sei die einzige der frühen Moderne, die dem Vergleich mit den klassischen Violinsonaten standhalte, und auch der französische Kammermusikexperte Harry Halbreich rückte das Werk aufgrund seiner genialen Klangqualitäten in eine Reihe mit den Sonaten von Mozart und Brahms.

An die Violinsonaten von Brahms erinnert in der Tat die Intimität des Dialogs - was Debussy angesichts seiner germanophoben Einstellung wohl kaum bewusst war. Der Beginn des ersten Satzes, eine Violinkantilene im Dreiertakt über ruhigen Klavierakkorden, gemahnt an die erste Brahms-Sonate. Freilich entsteht daraus ein eher mediterran-nervöser Dialog, der immer wieder wie musikalische Prosa, wie gesprochenes Wort wirkt. Melodische Gesten leuchten bruchstückhaft auf: eine spanisch gefärbte Fauxbourdon-Reihe, eine ungarische anmutende Violinrhapsodie. Das immer wiederkehrende Hauptthema mit seinen fallenden Terzen bildet das Band dieses ungezwungenen Satzes, der soweit wie nur möglich von der großen Geste einer Virtuosensonate entfernt ist.

Ein fantastischer Tanz (Fantasque et léger) fungiert als Intermezzo (Intermède). Nach kurzer einleitender Violinkadenz lösen Klavier und Violine einander mit lässig schlendernden Gesten ab, wie Spaziergänger auf einem Pariser Boulevard. Ein ruhigeres Seitenthema bringt eine sentimentale Note ins Spiel. Und auch das Finale gewinnt erst aus dem rhapsodischen Beginn heraus Kontur. Debussy nannte diesen Satz „ein einfaches Spiel über ein Thema, das sich um sich selbst wickelt wie eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt". Der Vergleich beschreibt anschaulich das Poetische dieses Satzes, der dem freien Dialog eine übermütige Pointe gibt.

Die Uraufführung erfolgte am 5. Mai 1917 im kriegserschöpften Paris in der Salle Gaveau durch den schon schwer krebskranken Komponisten und den jungen Geiger Gaston Poulet. Das Werk entwickelt in der Nachfolge von Fauré einen schillernden und duftenden Zaubergarten von Klangfarben, wie ihn die Welt noch nie gehört hatte. Es steht punkto Qualität und Rang gleichberechtigt neben den größten Werken der Klassik und der Romantik. Es war Debussys letztes öffentliches Konzert, neun Monate später erlag er seinem Krebsleiden.

Drei Mitschnitte empfehle ich Ihnen heute sehr gerne, zunächst Augustin Hadelich und Orion Weiss, aufgezeichnet im Sommer 2020 im Rahmen des Tanglewood Online Festivals:

www.youtube.com/watch

Der zweite Mitschnitt entstand am 11. Juni 2016 in der Stadtkirche Rheinfelden im Rahmen des Solsberg Festivals mit Alina Pogostkina und Jérôme Ducros:

www.youtube.com/watch

Und zuletzt noch ein komplettes Konzert aus der New Yorker Carnegie Hall, das am 21. Januar 2018 stattfand - das Programm:

Edvard Grieg - Violinsonate Nr. 2 G-Dur op. 13
Claude Debussy - Violinsonate g-Moll L. 140
Ernest Chausson - Konzert für Violine, Klavier und Streichquintett D-Dur op. 21

Die Interpreten sind Janine Jansen, Jean-Yves Thibaudet und das Dover Quartet; das Konzert beginnt mit Griegs Violinsonate Nr. 2, einem fröhlichen Werk voller Anspielungen auf die reichen musikalischen Traditionen des Heimatlandes des Komponisten (Norwegen). Eine echte Rarität ist nach Debussys Violinsonate Chaussons Konzert für Violine, Klavier und Streichquartett. Für den Titel, die Tempoangaben und den allgemeinen Charakter des Werks stützte sich Chausson auf die Errungenschaften französischer Barockmeister wie Rameau und Couperin und griff damit auf die Ästhetik des 18. Jahrhunderts zurück, die er so bewunderte:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd