Suche

Musik in schwierigen Zeiten Ansicht

10.09.2025 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 819

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

eher unbekannt, mit gut 35 Minuten relativ kurz und sehr ungewöhnlich im Aufbau ist unser heutiges Musikstück: Die Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 54 von Dmitri Schostakowitsch.

Ein langsamer Satz zu Beginn, mit einer Kantilene im Fortissimo, nicht zielgerichtet, eher suchend; zart und doch wie unter Druck und ständig bedroht, verwoben mit Arabesken, die ins Nichts führen - so beginnt Schostakowitsch seine sechste Sinfonie. Er verzichtet auf den klassischen Satzaufbau von Thema, Durchführung und Reprise in diesem Eröffnungssatz. Stattdessen erleben wir eine ausladende Meditation wie ein großes Gebet.

Ab Frühjahr 1939 und bis in den Herbst hinein komponierte er an diesem Werk. Die vorangegangenen drei Jahre waren hart für den Komponisten gewesen: Mit seiner Oper "Lady Macbeth von Mzensk" und seinem Ballett "Der helle Bach" war er bei der sowjetischen Staatsführung in Ungnade gefallen. Den Vorwurf des dekadenten Modernismus konnte er zwar mit seiner fünften Sinfonie ein Jahr später wieder entkräften. Doch das feindselige Klima im Land gegen alle Künstler, die sich nicht systemkonform gaben, lastete auch auf ihm, obwohl er nun wieder rehabilitiert zu sein schien.

Dünnes Eis, das auch die außenpolitische Lage betraf: Am 23. August 1939 unterzeichneten Stalin und Hitler ihren Nichtangriffspakt, der den Überfall Nazideutschlands auf Polen am 1. September möglich machte und den Beginn des 2. Weltkriegs markierte. Es ist, als würde all dieses Unheil aus der Partitur sprechen: Nicht deutlich, eher zwischen den Notenzeilen: Mit machtvollen Streicher-Unisoni, bedrohlichen Bläsersätzen und angsteinflößenden Trillerketten, die sich wie ein Orgelpunkt durch diesen ganzen Satz ziehen.

Dies sei eine "Sinfonie ohne Kopf", murrten denn auch die Kritiker von Schostakowitschs Sechster. Bei der Uraufführung am 21. November 1939 unter Jewgenij Mrawinskij in Leningrad vermissten sie sowohl die klassische Form als auch motivische Gedanken, die den mächtigen langsamen ersten Satz mit den beiden folgenden, überdrehten und recht knappen Sätzen inhaltlich verbinden. 

Dem langsamen Gebet vom Anfang folgt in Schostakowitschs Sechster ein absurdes Scherzo. Drängende Läufe, im steten Wechsel zwischen Solopassagen und Orchestertutti, werden mächtiger. Schließlich liefern sich Schlaginstrumente und Bläser einen groben Schlagabtausch, um plötzlich wieder auseinander zu galoppieren. Am Schluss des Satzes scheint das Scherzo regelrecht davonzulaufen. Und macht - beginnend mit dem Schlusston des zweiten Satzes - Platz für ein ebenso knappes Rondo.

Der zweite Satz ist dann wie ein dämonisches Scherzo. Und der letzte Satz wirkt wie ein Galopp, eine Art Zirkuspolka oder ein Rondo, das - wie immer bei Schostakowitsch - voller Sarkasmus und Ironie steckt. Die Sechste ist tatsächlich eine atypische Sinfonie. Sie beginnt in der Stille, endet aber im Zirkus! 

Zwei Mitschnitte empfehle ich Ihnen heute, zuvor aber auch noch eine kurze Einführung mit Leonard Bernstein in diese ungewöhnliche Sinfonie:

www.youtube.com/watch

Hier der erste Konzertmitschnitt mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Leonard Bernstein, aufgezeichnet im Oktober 1986 im Wiener Musikverein:

www.youtube.com/watch

Zum Vergleich: Das Orchestre Philharmonique de Radio France unter der Leitung von Santtu-Matias Rouvali, aufgezeichnet am 29. September 2023 im Auditorium de la Maison de Radio France in Paris:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd