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23.07.2025 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 802

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

heute erwartet Sie eine Oper, in der die Titelfigur zum Wahnsinn getrieben wird: Gaetano Donizettis "Lucia di Lammermoor".

In der literarischen Vorlage wohnt sie in einem nebelbehangenen Schloss auf einer Klippe in den schottischen Lowlands an einem Ort, der auch ihre Herkunft verrät: Lucia di Lammermoor. Das „Dramma lirico“ nach einem Libretto von Salvadore Cammarano und auf Grundlage von Walter Scotts Novelle „Die Braut von Lammermoor“ gehört zu Donizettis meistgespielten Werken.

Dass der Italiener auf eine literarische Vorlage des Schotten Scott zurückgreift, ist kein Zufall. Denn auf dem europäischen Festland war man interessiert an den „exotischen“ Stoffen und Erzählungen der benachbarten Insel. Sie sind fremd, theatergeschichtlich unverbraucht und bisweilen von mystischen und märchenhaften Vorstellungen geprägt. So hat mit Vincenzo Bellini ein Komponist aus dem unmittelbaren künstlerischen Umfeld Donizettis im Januar 1835 mit „I Puritani“ eine artverwandte Oper vorgelegt, die auf britischem Festland spielt. Aber auch Giuseppe Verdi lässt sich in „Macbeth" von Shakespeares Schottenkönig in den Highlands inspirieren. Schließlich zeugen Donizettis Opern des Tudor-Zyklus („Anna Bolena“, „Maria Stuarda“ und „Roberto Devereux“) vom hohen Interesse an einem Königreich Britannien jenseits des Hauses Hannover.

Wurzel der Geschehnisse ist der Konflikt zwischen der protestantischen Familie Ashton und der verfeindeten, aus ihrem Schloss Lammermoor verdrängten katholischen Familie Ravenswood. Titelfigur Lucia Ashton trifft sich heimlich mit Edgardo di Ravenswood, dem Erzfeind ihres Bruders Enrico. Dieser möchte seine Schwester zudem aus politischen Gründen an die Hand Arturo Bucklaws geben. Schließlich stellt sich bei einem der heimlichen Treffen heraus, dass Lucia unter Wahnvorstellungen leidet. Ihr sei der Geist einer Frau erschienen, die von ihrem Geliebten, einem Ravenswood, aus Eifersucht erstochen wurde. Letztlich muss Lucia in die Heirat mit Arturo einwilligen. Sobald Edgardo beim Unterzeichnen des Ehevertrags hinzutritt, bricht eine Welt für sie zusammen. Bei der Feier tötet die verwirrte Lucia Arturo, irrt halluziniert umher und fällt schließlich in Ohnmacht. Der Lucia immer noch liebende Edgardo, der gekommen war, um seine Fehde mit Enrico endgültig bei einem Duell zu beenden, erschießt sich daraufhin. Wie gewohnt finden Sie die ausführliche Handlung am Ende dieser Ausgabe.

Die „Wahnsinnsszene“ im dritten Akt erlangte Weltruhm, nicht zuletzt aufgrund der eigentümlichen Orchestrierung, die Donizetti dafür vorgesehen hat: Mittels Glasharmonika soll die geisterhafte und kühle Stimmung unterstrichen werden. Tatsächlich fand sich bei der Uraufführung in Neapel kein geeigneter Instrumentalist, weshalb Donizetti auf eine Flöte zurückgreifen musste, was den triumphalen Erfolg dieses Werks allerdings nicht beeinflusste.

Gaetano Donizetti war es mit "Lucia di Lammermoor" auf Anhieb gelungen, die Menschen seiner Zeit zu faszinieren. Bereits kurz nach der Uraufführung der Oper in Neapel am 26.September 1835, zog die Geschichte um die Welt. Im folgenden Jahr konnte man sie in Rom erleben, bald folgten Wien, Paris, London und die Mailänder Scala. Das Melodram entwickelte sich zu einem Klassiker der Opernhäuser und zahlreiche große Sopranistinnen nahmen sich der Rolle an, angefangen bei Jenny Lind bis hin zu Selma Kurz und Lily Pons. Berühmt wurden die Interpretationen von Maria Callas Mitte der 1950er Jahre, an denen sich dann die folgenden Koryphäen von Beverly Sills und Renata Scotto bis Joan Sutherland messen lassen mussten. 

"Lucia di Lammermoor" gilt als Schlüsselwerk der italienischen romantischen Oper, in der - anders als in den zeitgleich entstandenen entsprechenden deutschen und französischen Beispielen - das übersinnliche Geschehen in das Innere des Menschen verlagert wird. Der Geisterspuk mutiert zur Geisteskrankheit, die traumatischen Erlebnisse verdichten sich zur Psychose. Und so steht auch in "Lucia di Lammermoor" nicht umsonst die für die Sängerin ungeheuer herausfordernde und zugleich effektvolle Wahnsinnsarie der Titelfigur im musikdramaturgischen Zentrum der Oper. Das Werk lebt überdies vom melodischen Reichtum, einer musikpsychologischen Durchgestaltung der Charaktere und einer atmosphärischen Stimmungsmalerei. Zugleich weichten Donizetti und sein Librettist Cammarano gekonnt das vorgeschriebene Formenschema der Belcanto-Oper auf und nahmen dabei sogar die gestische Szenensprache eines Giuseppe Verdi vorweg.

Zwei Aufführungen stelle ich Ihnen heute zur Auswahl - zunächst eine Inszenierung aus dem Jahr 1986 von John Copley im Sydney Opera House in Australien mit folgender Besetzung: Joan Sutherland (Lucia), Richard Greager (Edgardo), Malcolm Donnelly (Enrico), Clifford Grant (Raimondo), Robin Donald (Normanno), Patricia Price (Alisa), Sergei Baigildin (Arturo) sowie der Opera Australia Chorus und das Elizabethan Sydney Orchestra unter der Leitung von Richard Bonynge:

www.youtube.com/watch

Zum Vergleich noch die Inszenierung von Laurent Pelly an der Wiener Staatsoper aus dem Jahr 2019 - die Besetzung: George Petean (Enrico/Lord Henry Ashton), Olga Peretyatko (Lucia), Juan Diego Flórez (Edgardo/Sir Edgar Ravenswood), Jongmin Park (Raimondo), Lukhanyo Moyake (Arturo), Virginie Verrez (Alisa), Leonardo Navarro (Normanno) sowie Chor und Orchester der Wiener Staatsoper unter der Leitung von Evelino Pidò:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler


Vorgeschichte
Der Familienzwist zwischen den Ashtons und den Ravenswoods geht auf die Zeit der Bürgerkriege zurück, als die Mittelklasse zu Reichtum kam, während der alteingesessene Adel verarmte. Lord Enrico Ashtons Vater hat den heruntergekommenen Ravenswoods das Schloss und fast alle Ländereien abgenommen. Edgardo, der letzte Ravenswood, muss im verfallenen Turm Wolferag hausen. Er glaubt, dass er durch Betrug um sein Erbe gebracht worden sei. Aber auch Enrico Ashton befindet sich in Schwierigkeiten. Die konservative Partei gewinnt ihre Macht zurück, und nur die familiäre Bindung mit einer einflussreichen Familie kann seine Lage retten. So hat er beschlossen, seine Schwester Lucia mit Lord Arturo Buklaw zu verheiraten, damit seine Zukunft sichergestellt ist.

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Die Gefolgsleute Ashtons durchstreifen die Wälder von Ravenswood, um nach einem unbekannten Eindringling zu suchen. Normanno vermutet, dass es sich um Edgardo handelt, und lässt vor allem in der Richtung Wolferag suchen. Enrico fürchtet, dass Lucia die Hand Arturos zurückweisen könnte. Raimondo, der Geistliche des Schlosses, verlangt Rücksicht auf die Trauer um die erst kürzlich verstorbene Mutter. Normanno fügt dem hinzu, dass sich Lucia immer wieder mit einem jungen Kavalier treffe, der ihr einst das Leben rettete. Er lässt durchblicken, dass es sich bei diesem Mann durchaus um Edgardo handeln könne. Eine Verbindung mit dem Todfeind wäre für Ashton schlimmer als ihr Tod. Die Gefolgsleute kehren zurück mit der Nachricht, der Eindringling sei tatsächlich Edgardo. Enrico schwört Rache.

2. Bild
An einer Quelle wartet Lucia auf Edgardo. Um diese Quelle rankt sich eine alte Legende, die Lucia ihrer Vertrauten Alisa erzählt: Hier habe einst ein eifersüchtiger Ravenswood seine untreue Geliebte erstochen. Auf einem nächtlichen Spaziergang ist Lucia der Verstorbenen begegnet; als diese im Brunnen verschwand, färbte sich das Wasser blutrot. Edgardo findet sich ein, um vorläufig von Lucia Abschied zu nehmen. Im politischen Auftrag muss er Schottland verlassen; vorher möchte er sich mit Ashton versöhnen und um Lucias Hand anhalten. Sie beschwört ihn aber, ihre Liebe geheim zu halten. Beide geloben sich vor Gott ewige Treue. Edgardo verspricht, ihr aus dem Ausland Nachricht zu geben.

3. Bild
Enrico erwartet seine Schwester. Er fürchtet immer noch, dass sie sich seinen Plänen widersetzen könne. Normanno beruhigt ihn: Alle Briefe der Geliebten seien abgefangen worden. Zudem habe er noch einen Brief gefälscht, aus dem hervorgehe, dass Edgardo untreu geworden sei. Als Lucia den gefälschten Brief gelesen hat, wünscht sie sich den Tod. Schon beginnen die Vorbereitungen zum Hochzeitsfest, und Enrico bittet seine Schwester eindringlich, ihm zu helfen, da ihr Edgardo doch für immer verloren sei. Raimondo teilt Lucia mit, er selbst habe durch einen sicheren Boten Edgardo einen Brief geschickt, aber auch darauf sei keine Antwort erfolgt. Da ihr Bund mit Ravenswood nicht vor der Kirche geschlossen sei, könne man ihren Treueschwur für nichtig ansehen. Lucia willigt in die Heirat mit Arturo ein.

4. Bild
Die Hochzeitsgäste empfangen Lord Arturo Buklaw mit allen Ehren. Er führt sich selbst als Retter Enricos ein. Lucia erscheint im Brautstaat. Enrico entschuldigt ihre trübe Stimmung mit der Trauer um ihre verstorbene Mutter. Sie unterschreibt unter geflüsterten Drohungen ihres Bruders den Heiratsvertrag, als sei es ihr Todesurteil. Da erscheint Edgardo. Mit Mühe kann Raimondo einen Zweikampf zwischen Enrico und Edgardo verhindern. Als Edgardo den unterzeichneten Heiratsvertrag sieht, verflucht er Lucia und das Haus Ashton.

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Ein Unwetter tobt um Wolferag. Enrico sucht Edgardo auf, um ihn zum Zweikampf aufzufordern. Sie verabreden ein Treffen für den nächsten Morgen an den Gräbern der Ravenswoods.

6. Bild
In die ausgelassenen Hochzeitsfeierlichkeiten stürzt Raimondo mit der Nachricht, dass Lucia im Brautgemach Arturo umgebracht habe und wahnsinnig geworden sei.  Nun erscheint sie selbst. Sie ist nicht mehr Herr ihrer Sinne: Zunächst glaubt sie, das Gespenst von der Quelle zu sehen, dann erlebt sie eine imaginäre Hochzeit mit Edgardo. Sie bittet ihn um Vergebung und verspricht, für ihn im Himmel zu beten. Enrico muss entsetzt einsehen, dass er seine Schwester in den Wahnsinn getrieben hat. Raimondo macht Normanno für das Geschehen verantwortlich.

7. Bild
Edgardo wartet am verabredeten Platz auf Enrico. Er will im Duell sterben. Vorbeikommende Hochzeitsgäste berichten von dem entsetzlichen Vorfall auf dem Fest. Lucia liege nun im Sterben, man hört bereits die Totenglocken läuten. Edgardo will Lucia noch einmal sehen. Als Raimondo ihm mitteilt, dass sie bereits gestorben sei, gibt er sich selbst den Tod.

Beitrag von sd