Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
eine der letzten drei Klaviersonaten Franz Schuberts möchte ich heute in den Mittelpunkt stellen: Die Klaviersonate A-Dur D 959.
Bis zum Sommer 1828 hatte sich Schuberts oft prekärer Gesundheitszustand so weit verschlechtert, dass er von Kopfschmerzen und Übelkeitsanfällen geplagt wurde. Dennoch führte er nicht nur weiterhin ein recht geselliges Leben, sondern arbeitete auch fieberhaft weiter. Im September, zwei Monate vor seinem Tod, vollendete er vier visionäre Meisterwerke, die sein Schaffen als Instrumentalkomponist krönten: das Streichquintett C-Dur und drei große Klaviersonaten - D 958, D 959 und D 960 -, die er über mehrere Monate hinweg geplant hatte und dem Komponisten und Pianisten Johann Nepomuk Hummel widmen wollte. Als der Musikverleger Diabelli die Sonaten 1839 schließlich veröffentlichte, war Hummel bereits tot; stattdessen widmete Diabelli sie einem neuen Verfechter von Schuberts Musik, Robert Schumann.
Vor allem die B-Dur-Sonate D 960 hat eine Aura des Jenseitigen, als ob der Komponist bereits aus dem Totenreich kommunizieren würde. Man sollte sich jedoch davor hüten, Schuberts letztes Sonaten-Triptychon als einen langwierigen Abschied zu verstehen. Er war sich zwar bewusst, dass er wohl nicht alt werden würde, aber er ahnte bis zu seiner letzten Krankheit im November nicht, dass der Herbst 1828 sein letzter sein würde. In diesen Sonaten finden sich Pathos, Schmerz und ein Gefühl der Vergänglichkeit - auch Wut in der c-Moll-Sonate D 958 und in der Katastrophe im Andantino der A-Dur-Sonate D 959 - aber auch Ausgelassenheit, Humor und reine Lebensfreude.
„Wer vermag nach Beethoven noch etwas zu machen?“, stellte Schubert einst die rhetorische Frage. Eine Generation später setzte sich Brahms mit dieser Thematik auseinander, als er an seiner ersten Sinfonie arbeitete. Beethovens mächtiges Beispiel blieb für alle Komponisten des 19. Jahrhunderts, die die Sonatentradition weiterführten, sowohl eine Inspiration als auch eine gewaltige Herausforderung. Doch Schuberts Quintett und seine letzten drei Sonaten scheinen die Vorstellung zu bestätigen, dass der zurückhaltende ehemalige Lehrer entschlossen war, sich nach Beethovens Tod im März 1827 als Nachfolger des Meisters zu etablieren. Das Finale der A-Dur-Sonate D 959 hat Schubert dem letzten Satz von Beethovens Sonate op. 31 Nr. 1 von 1802 nachempfunden: nicht so sehr in seinem Thema, das er aus seiner eigenen a-Moll-Sonate D 537 übernahm, sondern in seiner Struktur und seinem Klangbild, über eine stürmische Durchführung bis hin zur Fragmentierung des Themas in der Coda und dem stürmischen Prestissimo-Abschluss.
Doch weitaus auffälliger als alle Ähnlichkeiten sind die grundlegenden Unterschiede zwischen den beiden Komponisten. Wo Beethoven knapp ist, wird Schubert ausladend in seinem lyrischen Ausdruck: „Als könnte es gar kein Ende haben, nie verlegen um die Folge, immer musikalisch und gesangreich, rieselt es von Seite zu Seite weiter“, um Robert Schumanns berühmte Rezension von Schuberts letzten drei Sonaten zu zitieren. Es gibt keine Parallele bei Beethoven für die kühne Geste des Beginns der Reprise in der entlegenen Tonart Fis-Dur im Finale von D 959; und während Beethovens Täuschungen und Pausen in der Coda rein komödiantisch aufzufassen sind, sind sie bei Schubert von Beunruhigung durchdrungen. In einem letzten, noch nie dagewesenen Kunstgriff rundet Schubert das ganze Werk mit einer unmissverständlichen Anspielung auf die Anfangstakte der Sonate ab - die Art von zyklisch vereinendem Stilmittel, das später bei Liszt, Schumann und anderen romantischen Komponisten zu finden ist.
Mehrere von Schuberts späten langsamen Sätzen sind auf den extremen Kontrasten der Ruhe und Turbulenz aufgebaut. Im Andantino von D 959 jedoch ist die verstörende Gewalt beispiellos. Der Satz beginnt als entlegene, melancholische Barkarole, zunächst in fis-Moll ausgesetzt und dann in A-Dur, was einen besonders wirkungsvollen Effekt hat. Tonalität und Metrum werden mit einem täuschend kapriziösen Rezitativ mit Kadenz unterlaufen, wobei die Musik von Fis in die weit entfernte Tonart c-Moll geführt wird. Dann verwandelt Schubert das Tasteninstrument in ein groteskes Orchester und lässt eine seismische Fantasie erklingen, die Rhythmus und Harmonie an den Rand der Zusammenhanglosigkeit treibt. Nach einer Reihe von Fortissimo-Schlägen und einem leisen Wechsel von cis-Moll in die Dur-Variante weicht der Alptraum allmählich zurück. Die Barkarole kehrt rhythmisch variiert zurück und hat eine neue fließende Begleitung mit einer nagenden rhythmischen Figur in der Oberstimme, bevor die Musik im dreifachen Piano in die Tiefe sinkt. Das Trauma des zentralen Ausbruchs wird nie ganz überwunden.
Alfred Brendel hat den erschreckenden, prophetischen Ausbruch im Andantino treffend als Nervenzusammenbruch beschrieben: weit entfernt von dem vertrauten, gemütlichen Schubert, vielmehr ein erschütternder Ausdruck eines ebenso entscheidenden Aspekts seiner musikalischen Persönlichkeit und, wenn man so sagen darf, der Verzweiflung, die zeitweise in seinem Innern wütete.
Unser heutiger Mitschnitt stammt vom Münchner Klaviersommer 1993, aufgezeichnet in der Philharmonie am Gasteig - der Pianist Michael Endres hat übrigens 2001 mein Klavierexamen an der Kölner Musikhochschule abgenommen:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Hamburg
Matthias Wengler