Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
unser heutiges Musikstück hat zum Ende meines Kirchenmusikstudiums in Köln eine besondere Rolle gespielt. Zum Examen im Fach Gesang gehört auch das Sprechen eines Textes - viele meiner Kolleg*innen wählen in der Regel ein Gedicht oder eine Ballade von Goethe oder Schiller. Zur Überraschung der Prüfungskommission habe ich mich 2001 für etwas ganz anderes entschieden: Das Finale aus dem Musical "My Fair Lady", das neben dem Lied "Ich bin gewöhnt an ihr Gesicht" auch noch eine Menge Monolog enthält - hier ein Mitschnitt aus der englischen Fassung mit dem großartigen Schauspieler Jeremy Irons:
"My Fair Lady" ist wohl der Inbegriff des "klassischen" Musicals, mit Sicherheit aber eines der meistgespielten Stücke aller Zeiten. Am 15. März 1956 hob sich dafür erstmalig im Mark Hellinger Theatre am Broadway der Vorhang, 2.717 Vorstellungen folgten allein an diesem Theater. Kein Wunder: eine moderne Aschenputtel-Geschichte, eingängige Melodien mit Ohrwurmcharakter und nicht zuletzt ein Wortwitz, der seinesgleichen sucht.
Dabei wäre aus der ganzen Angelegenheit beinahe nichts geworden. Der Grund: George Bernard Shaw, der Autor der aus der griechischen Mythologie entlehnten Vorlage "Pygmalion", stimmte zwar einer Verfilmung seiner Komödie zu, doch von einer musikalischen Adaption des Stoffes wollte er nichts wissen. Zum Glück nahmen es seine Erben mit diesem Wunsch nicht ganz so genau und gaben das Stück nach langen Verhandlungen schließlich frei. Doch nun fand der Produzent Gabriel Pascal niemanden, der es vertonen wollte. Cole Porter lehnte ab, ebenso das legendäre Songwriter-Duo Rodgers und Hammerstein, auch Leonard Bernstein wollte nicht. Der Kammerspiel-Charakter schien ihnen für die große Musical-Bühne nicht wirklich geeignet zu sein. Selbst die beiden letztlich gefundenen Autoren - der in Berlin geborene Komponist Frederick Loewe und sein Librettist Alan Jay Lerner - hatten zunächst Vorbehalte und fanden erst im zweiten Anlauf einen Zugang. Eine Rolle dürfte bei ihren Zweifeln auch der ernste Hintergrund gespielt haben, denn bei aller vordergründigen Komik ist "My Fair Lady" doch vor allem eine Studie über soziale Ungleichheit zwischen urbanen Gesellschaftsschichten, über Bildung und Aufstiegsmöglichkeiten im England des anbrechenden 20. Jahrhunderts.
Die Handlung: Was macht den Menschen aus, seine Herkunft oder seine Sprache? Phonetik-Professor Henry Higgins ist zutiefst vom Letzteren überzeugt. Als ihm das fürchterlich radebrechende Blumenmädchen Eliza Doolittle nach einem Opernbesuch auf dem Londoner Markt von Covent Garden über den Weg läuft, ist sein Ehrgeiz angestachelt. Mit Kollege Oberst Pickering wettet er, innerhalb von sechs Monaten aus der verlotterten Straßengöre eine Lady zu machen. Eliza ist von diesem Angebot fasziniert und willigt in die Sprach-Dressur ein. Und nach einigen Startschwierigkeiten scheint das Experiment auch tatsächlich zu gelingen, wenn da nicht die Liebe ins Spiel käme…
Loewe und Lerner gelang es, Struktur und Tonfall des Schauspiels beizubehalten. So übernahmen sie auch die in der Vorlage angelegten Stilmittel wie Ironie und Satire, mit denen Shaw die Borniertheit der höheren englischen Gesellschaft offenlegte. Raum für dralle Komik bot neben der radebrechenden Eliza auch ihr Vater, der schnapstrunkene Müllkutscher Alfred Doolittle. Sie machten einige Passagen überhaupt erst musicaltauglich. Und um große Ensembles zu ermöglichen, die im Musiktheater unverzichtbar sind, holten sie auch jene Szenen auf die Bühne, die bei Shaw nur am Rande Erwähnung finden. Die wichtigste Änderung gegenüber der Vorlage: Es gibt ein richtiges Happy End. Während Higgins im Schauspiel zwar von seiner "Schöpfung" Eliza begeistert ist, sich für die Person selbst aber kein bisschen interessiert, entwickelt sich hier eine echte Liebesbeziehung. Als eines der größten Verdienste der beiden Autoren kann darüber hinaus die gelungene Verbindung von amerikanischem Musical und europäischer Operette gelten.
Die Uraufführung des Musicals 1956 im Mark Hellinger Theatre in New York ein riesiger Erfolg. In den Hauptrollen brillierten Rex Harrison und Julie Andrews, die später als Mary Poppins Triumphe feierte. Die mit einem großen Marketingaufgebot beworbene Produktion, deren Songs schon vor der Uraufführung die Charts stürmten, wurde von Presse und Publikum bejubelt und mit sechs Tony Awards ausgezeichnet. Sechseinhalb Jahre lief "My Fair Lady" allein am Broadway, und schon bald folgten Inszenierungen überall auf der Welt. Endgültig unsterblich wurde "My Fair Lady" dann 1964 durch die Verfilmung mit Audrey Hepburn und ebenfalls Rex Harrison in den Hauptrollen. Sowohl am Broadway als auch im Kino brach das Stück alle kommerziellen Rekorde seiner Zeit; bis heute zählt es zu den "All Time Favorites" des populären Musiktheaters.
Ein besonderer Erfolg war dem Stück im damals noch weitgehend musical-unerprobten Deutschland beschieden, wo es so etwas wie den Durchbruch des Genres an sich bedeutete. Das dürfte einerseits an den erwähnten operettenhaften Zügen liegen, vor allem aber an der kongenialen Übertragung von Robert Gilbert, der Elizas Londoner Cockney-Akzent kurzerhand zum Berliner Dialekt umwandelte. Sage und schreibe 88 Wochen hielt sich der von Karin Hübner und Paul Hubschmid gesungene Soundtrack hierzulande auf Platz 1 - es ist bis heute das erfolgreichste Album der Chart-Geschichte. Nicht nur die Berliner erlagen dem Charme von "My Fair Lady" nach der Erstaufführung am 25. Oktober 1961 im Theater des Westens, auch der Komponist Frederick Loewe war von dieser Version geradezu "bejeistert".
Ein kleiner Ausschnitt mit einer Schlüsselszene zeigt, wie gut der Berliner Dialekt funktioniert: Cornelia Froboess und Peter Fricke traten 1992 in der ZDF-Sendung "Achtung, Klassik!" mit Justus Frantz auf:
www.youtube.com/watch
1987 wurde ein großer Querschnitt des Musicals als Konzert in der Londoner Royal Albert Hall aufgeführt. Diesen Mitschnitt mit Kiri Te Kanawa (Eliza Doolittle), Jeremy Irons (Prof. Henry Higgins) und Warren Mitchell (Alfred P. Doolittle) sowie den London Voices und dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von John Mauceri können Sie im folgenden Link erleben:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Urlaubsgrüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler