Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
das heutige Musikstück bezeichnete der Komponist selbst als seine "keckste" Sinfonie: Die Sinfonie Nr. 6 A-Dur von Anton Bruckner.
Von Anfang an hatte es die Sechste von Anton Bruckner schwer: Bei der Uraufführung am 11. Februar 1883 wurde sie nicht komplett aufgeführt, stattdessen brachte Hofoperndirektor Wilhelm Jahn mit den Wiener Philharmonikern nur die beiden Mittelsätze zu Gehör. Bis dato war überhaupt noch nie eine Bruckner-Sinfonie in einem regulären Konzert des Orchesters gespielt worden. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie nicht ganz aufgeführt wurde, vielleicht war sie aber auch schlichtweg zu lang. Sicher ist, dass die beiden Sätze so aus dem Kontext gerissen, eigentlich nur verlieren konnten. Insbesondere das Scherzo fand in der Presse schlechten Anklang.
Der Musikkritiker Eduard Hanslick, der spätestens nach der dritten Sinfonie Bruckners jegliche Sympathie gegenüber dem Komponisten verloren hatte, weil dessen Sinfonien seiner Meinung nach eine Gefahr für die „absolute“ Instrumentalmusik seien, wetterte in der „Neuen Freien Presse“: „Bei dem ausschließlich durch Seltsamkeit fesselnden Scherzo trennte sich aber - wie der Sportsmann sagen würde - das Ross vom Reiter. Eine kleine Clique schien sich’s in den Kopf gesetzt zu haben, die Legitimierung auch dieses Satzes auf revolutionärem Wege zu erzwingen; vergebene Liebesmüh’.“
Dabei hatte Bruckner selbst in voller Zufriedenheit seine Sechste als „keckste“ bezeichnet und aufgeregt an einen Freund geschrieben, dass die Philharmoniker an dem Werk solches Wohlgefallen fanden, „dass sie heftig applaudierten und einen Tusch machten.“ Denn nach fünfjähriger Pause setzte bei Bruckner 1879 ein neuer Schaffensprozess ein, in dessen Zuge auch seine Sinfonie Nr. 6 entstand.
Außerdem war er mittlerweile „wirkliches Mitglied der Wiener Hofkapelle“ mit einem gesicherten Einkommen, so dass er mit einer anderen Intention an die Komposition herangehen konnte. Seine Zufriedenheit mit dem Endergebnis zeigt sich sicherlich auch darin, dass es keine Zweit- und Drittfassung seiner Sechsten gibt, wie bei jeder seiner vorherigen Sinfonien. Zum ersten Mal hatte er nicht das Gefühl, seine Komposition nochmal überarbeiten oder gar „verbessern“ zu müssen, sondern beließ sie in ihrer ursprünglichen Form.
Schon der Beginn ist untypisch. Die meisten Bruckner-Sinfonien beginnen mit einem musikalischen "Urnebel", aus dem die Motive des Stückes langsam aufsteigen. Die Sechste dagegen startet mit einem akzentuierten Rhythmus, der fast schon an Ravels 50 Jahre später entstandenen "Boléro" erinnert. Das eigentliche Hauptthema erklingt dann drohend in den tiefen Streichern. Der langsame zweite Satz erfüllt eher das Bild einer typischen Bruckner-Sinfonie. "Sehr feierlich" strömt die Melodie der Streicher dahin, wird aber mehrfach durch eine unruhige Gegenstimme der Oboe gekreuzt. Das folgende Scherzo nimmt den Bewegungsdrang des Kopfsatzes wieder auf, spukhafte Sequenzen und schmetterndes Blech dominieren den Satz. Die angestaute Anspannung löst sich schließlich im Finale. An seinem Höhepunkt erklingt noch einmal das Hauptthema aus dem ersten Satz und schlägt so einen Bogen zum Beginn.
Nachdem Gustav Mahler 1899 die erste Gesamtaufführung in der Instrumentierung stark veränderte und in gekürzter Fassung leitete, sollte es noch bis 1935 dauern, bis die Sinfonie das erste Mal unter Paul van Kempen so erklang, wie es die Originalpartitur vorschrieb. Bruckner selbst erlebte keine dieser Gesamtaufführungen; er war bereits 1896 gestorben.
Drei Konzertmitschnitte empfehle ich Ihnen heute sehr gerne, zunächst mit dem SWR Symphonieorchester unter der Leitung von Kent Nagano, aufgezeichnet im Juli 2019 in der Stuttgarter Liederhalle:
1996 wurde das Schleswig-Holstein-Musikfestival mit diesem Werk in der Lübecker Musik- und Kongresshalle eröffnet, es musizierte das damalige NDR Sinfonieorchester (heute: NDR Elbphilharmonie Orchester) unter der Leitung von Günter Wand:
Und zuletzt noch ein Konzert aus der Hamburger Elbphilharmonie vom 17. Oktober 2019 mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester unter der Leitung von Herbert Blomstedt - vor Bruckners Sechster erklingt noch Haydns letzte Sinfonie, die Sinfonie Nr. 104 D-Dur:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler