Suche

Musik in schwierigen Zeiten Ansicht

23.07.2025 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 803

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

kennen Sie ein Klavierkonzert mit Männerchor? Falls nicht, kann Ihnen mit der heutigen Ausgabe geholfen werden: Ferrucio Busonis Klavierkonzert op. 39.

Ferruccio Busoni war ziemlich sicher einer der größten Pianisten überhaupt. Der erste öffentliche Auftritt des Achtjährigen bedeutete den Auftakt zu einer Karriere, wie sie zuvor wohl nur Franz Liszt, danach allenfalls noch Sergej Rachmaninow erlebte. Als Pädagoge wirkte der Sohn einer deutschen Pianistin und eines italienischen Klarinettisten in Wien, Moskau, Boston, New York und ab 1908 in Berlin. In seiner 1906 verfassten Schrift "Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst" erwies Busoni sich als echter Visionär. Er träumte von quasi zwölftönigen Strukturen, von Drittel- und Sechsteltönen, ja sogar von elektronischer Musik. Der konservative Hans Pfitzner sah sich genötigt, solch wegweisendem revolutionärem Elan mit seinem Pamphlet "Futuristengefahr" zu begegnen und den Untergang des musikalischen Abendlandes zu beschwören. Doch so sehr der theoretische Querdenker Busoni auf das Neue, noch nicht Gehörte setzte, als Komponist bewegte er sich weitgehend in traditionellen, an seinen Hausgöttern Bach, Mozart und Beethoven orientierten Bahnen.
  
Mit seinem Klavierkonzert schuf Busoni zwischen 1902 und 1904 ein absolutes Unikat. Die Epoche der Romantik war noch hörbar nah, zugleich ließ die aufkommende Moderne neue künstlerische Freiheiten erahnen. In dieser Zeitenwende mit ihrer kreativen Sprengkraft erkundete Busoni mit seiner Komposition furchtlos die Grenzen der romantischen Musik, ohne sie aber ganz zu übertreten. Gleichzeitig griff er tief in den Fundus seiner überschäumenden Fantasie: Assoziationen an Heiliges und menschengemachte Denkmäler aus griechisch-römischer, ägyptischer und babylonischer Zeit, aber auch an die Natur Italiens mit ihren Zypressen und Vulkanen integrierte er als vage außermusikalische Ideen in die fünf Sätze. Muss man all das heraushören? Nein, denn das Klavierkonzert ist keine Programmmusik, in der Inhalte mit musikalischen Mitteln gut verständlich nacherzählt werden. Stattdessen können die Bilder assoziative Impulse für das Hören und Nachdenken über diese Musik geben: Bonusmaterial für das ganz eigene Kopf- und Klangkino.

Auch wenn dieses Konzert mit fast 75 Minuten als eines der längsten im Kosmos der Klavierkonzerte gilt und fast Spielfilmlänge erreicht: Langweilig wird es nicht, denn dieses Werk hält einige Überraschungen parat. Den Männerchor zum Beispiel, der sich vier Sätze lang schweigend gedulden muss, um dann endlich - als großes Finale - ein ergreifendes Gotteslob anzustimmen. Die Partitur schreibt vor, dass der Chor hinter der Bühne platziert ist, also unsichtbar bleibt. So scheint der Raum selbst zu singen, wenn er sich plötzlich mit menschlichen Stimmen füllt: Musikzauberei!  

Busonis Klavierkonzert ist das Meisterwerk seiner mittleren Jahre, in seiner Breite und Bandbreite seiner Ideen eher eine Sinfonie, verlangt dem Solisten aber gleichzeitig geradezu beiläufig höchste technische Fähigkeiten ab. Zweifellos ist es eines der am meisten vernachlässigten Meisterwerke der Musik. Die Uraufführung erfolgte am 10. November 1904 in Berlin (Busoni verbrachte den Großteil seines Lebens dort) im Beethoven-Saal mit dem Komponisten am Klavier, dem Chor der
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und dem Berliner Philharmonischen Orchester unter der Leitung von Karl Muck.

Busonis Klavierkonzert ist allein schon wegen der Besetzung nur selten im Konzertsaal zu erleben - unser heutiger Mitschnitt kommt aus der Stuttgarter Liederhalle. Am 12. April 2024 musizierte Kirill Gerstein mit dem Chorwerk Ruhr, der Zürcher Sing-Akademie und dem SWR Symphonieorchester unter der Leitung von John Storgårds:
  
www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd