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07.06.2024 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 637

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

"mir fällt mal wieder gar nichts ein" - so untertitelte ein namhafter Musikkritiker das Thema des ersten Satzes unseres heutigen Musikstücks: Die Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98 von Johannes Brahms.

Brahms‘ letzte Sinfonie entstand während der Sommermonate 1884 und 1885 im österreichischen Mürzzuschlag am Fuße des Semmerings. Mit Spannung erwartete Brahms’ musikalisches und persönliches Umfeld die vierte Sinfonie, für deren Entstehung er viel Zeit ließ. Der Anfang-50-Jährige ahnte schon, dass er dem Publikum damit eine ungewohnte Nuss zum Knacken gab. Denn an Hans von Bülow schrieb er, seine Vierte "schmeckt nach dem hiesigen Klima - die Kirschen hier werden nicht süß". Noch vor der Meininger Uraufführung unter der Leitung des Komponisten notierte die befreundete Elisabeth von Herzogenberg nach dem Partiturstudium des ersten Satzes: „Es geht mir eigen mit dem Stück; je tiefer ich hineingucke, je mehr vertieft auch der Satz sich, je mehr Sterne tauchen auf…, je mehr einzelne Freuden habe ich, erwartete und überraschende, und umso deutlicher wird auch der durchgehende Zug, der aus der Vielheit eine Einheit macht.“

Eben dieser Beziehungszauber, der aus der Vielheit eine Einheit macht, führte rund 50 Jahre später zu der folgenreichen Umpolung des Brahms-Bildes durch Arnold Schönberg. Galt Brahms zu seinen Lebzeiten als konservativer Antipode von Wagner und Liszt, so erklärte Schönberg ihn zu einem „Progressiven“. Schönberg wies dabei auch auf die Sinfonie Nr. 4 hin - und zwar auf fallende Terzenketten im Finalsatz, die mit dem Hauptthema des ersten Satzes korrespondieren. Dieses so melancholisch anmutende Thema beginnt mit absteigenden Terzen und aufsteigenden Sexten, es ist eine Tonfolge, die sich als eine abwärts gerichtete Terzenkette lesen lässt.

Neben solch „fortschrittlich“-konstruktiven Qualitäten wartet die vierte Sinfonie mit reizvoll archaisierenden Elementen auf. Dazu gehören die Anklänge an die phrygische Kirchentonart im zweiten Satz und erst recht der Gebrauch des barocken Passacaglia-Modells im Finale. Brahms entnahm das sich stetig wiederholende Thema der Passacaglia dem Schlusschor von Bachs Kantate „Nach dir, Herr, verlanget mich“, bereicherte es durch eine chromatische Zwischenstufe und baute damit eine Variationenfolge von unvergleichlicher Wirkung. An die Metaphorik der hellsichtigen Elisabeth von Herzogenberg anknüpfend meinte der Musikkritiker und Brahms-Freund Eduard Hanslick: „Wie ein dunkler Brunnen ist dieses Finale; je länger man hineinschaut, desto mehr und hellere Sterne glänzen uns entgegen.“

Kaum jemand hat Johannes Brahms´ vierte Sinfonie bereits wenige Monate nach der Uraufführung im Jahr 1885 enthusiastischer charakterisiert, als der mit Brahms befreundete Geiger Joseph Joachim in einem Brief an den Komponisten: "Wir haben nun Deine herrliche Schöpfung heute in der Generalprobe durchgespielt. Sie hat sich mir und dem Orchester immer tiefer in die Seele gesenkt. Der nahezu packende Zug des Ganzen, die Dichtigkeit der Erfindung, das wunderbar verschlungene Wachstum der Motive noch mehr als der Reichtum und die Schönheit einzelner Stellen, haben mir´s geradezu angetan, so dass ich fast glaube, die e-Moll ist mein Liebling unter den vier Sinfonien."

Wenn Joachim das "verschlungene Wachstum der Motive" und die "Dichtigkeit der Erfindung" anspricht, dann benennt er damit die Merkmale, die der Komponist Arnold Schönberg später an Brahms als besonders fortschrittlich einstufte und als "Technik der entwickelnden Variation" beschrieb. Die Kehrseite dieser Technik ist ein motivisches Ausgangsmaterial, das diese Art der Verarbeitung ermöglicht und daher entsprechend wandlungsfähig sein muss, was häufig durch einen Mangel an thematischem Profil erkauft werden muss. Brahms-Kritiker bezeichneten gerade dies als besonders konstruiert und unterlegten das Hauptthema des ersten Satzes prompt mit Texten wie "Ich weiß nicht, was ich schreiben soll" oder "Mir fällt mal wieder gar nichts ein". So ist gerade diese Sinfonie beispielhaft für die Auseinandersetzung zwischen den "Traditionalisten", die die geistige Durchdringung des Materials höher bewerteten als den originären Einfall, und den "Neudeutschen", die auf dem musikalischen Einfall als zentralem Ausgangspunkt bestanden und die penible Bearbeitung als bloßen Akademismus ablehnten.

Bei der Uraufführung seiner Vierten im Oktober 1885 in Meiningen stand Brahms selbst am Dirigentenpult - eine Seltenheit. Wenig später macht der sarkastische Text in Wien die Runde, der auf die Anfangstakte gesungen wurde: "Es fiel ihm wieder mal nichts ein". Welch ein eklatantes Missverständnis! Mit "nichts" ist hier gemeint: keine gescheite Melodie. Der Anfang der Vierten jedoch erschien den Zeitgenoss:innen allzu abstrakt. Heute, rund 140 Jahre nach dem Entstehen, macht die Poesie gerade dieses Beginns, der Freudentaumel des dritten Satzes und die Feierlichkeit des Finales Brahms’ Vierte zu einer der beliebtesten Sinfonien überhaupt.  

In vielerlei Hinsicht ist diese Sinfonie ein besonderes Werk: das letzte Wort des Sinfonikers Brahms, Schluss-und Höhepunkt einer Gattung, die ihn so viel Mühe, Kopfzerbrechen und Ringen mit den musikalischen Ausdrucksmitteln gekostet hat. Ein befremdliches Werk für die Zeitgenossen wegen der radikalen Kompositionsweise und gleichzeitig Ausgangspunkt für die nachfolgende Komponistengeneration. Dennoch: Ein Alterswerk ist die Vierte nicht. Immerhin bleiben Brahms nach der Uraufführung 1885 noch mehr als zehn Jahre zu leben. Da schreibt er jedoch vor allem Kammermusik. Als großes Orchesterwerk wird nur noch das Doppelkonzert folgen. Zu einer weiteren Sinfonie ringt er sich nicht mehr durch.

Eine Reihe von Mitschnitten empfehle ich Ihnen heute sehr gerne, zunächst Daniel Barenboim mit der Staatskapelle Berlin, aufgezeichnet im Juli 2018 im Centro Cultural Kirchner in Buenos Aires:

www.youtube.com/watch

Das Oslo Philharmonic unter der Leitung von Klaus Mäkelä, der Mitschnitt entstand am 4. Juni 2021:

www.youtube.com/watch

Aus dem Brahms-Zyklus mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Leonard Bernstein, aufgezeichnet 1983 im Wiener Musikverein:

www.youtube.com/watch

Die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Herbert von Karajan, aufgezeichnet 1973 in der Berliner Philharmonie:

www.youtube.com/watch

Ein Mitschnitt aus Norwegen: Edward Gardner mit dem Bergen Philharmonic Orchestra, aufgezeichnet im Februar 2021 in den Grieghallen in Bergen:

www.youtube.com/watch

Ein Mitschnitt von den BBC Proms aus dem Jahr 2011, Bernard Haitink dirigierte am 20. August 2011 in der Londoner Royal Albert Hall das Chamber Orchestra of Europe:

www.youtube.com/watch

Und zuletzt: Das Bayerische Staatsorchester unter der Leitung von Carlos Kleiber, aufgezeichnet am 21. Oktober 1996 im Herkulessaal der Münchner Residenz:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler
 

Beitrag von sd