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13.10.2025 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 839

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

ein Solo-Konzert für Viola erwartet Sie heute: Der Schwanendreher von Paul Hindemith.

"Der Schwanendreher" entstand 1935 als ein "Konzert nach alten Volksliedern für Bratsche und kleines Orchester". Längst war Hindemith da schon von den zwei Jahre zuvor an die Macht gekommenen Nationalsozialisten klargemacht worden, dass er als "Kulturbolschewist" und "atonaler Geräuschemacher" (NS-Propagandaminister Joseph Goebbels) in Deutschland keine berufliche Perspektive haben würde. In einem knappen Partitur-Vorwort skizzierte Hindemith dabei das "mittelalterliche Bild", das ihn beim Komponieren des "Schwanendrehers" leitete: "Ein Spielmann kommt in frohe Gesellschaft und breitet aus, was er aus der Ferne mitgebracht hat: ernste und heitere Lieder, zum Schluss ein Tanzstück. Nach Einfall und Vermögen erweitert und verziert er als rechter Musikant die Weisen, präludiert und phantasiert." Während mit dem Schwanendreher wörtlich jemand gemeint war, der den Spieß eines bratenden Schwans drehte, bezog Hindemith sich metaphorisch auf einen fahrenden Spielmann, dessen Drehorgel oder Leier mit einem Schwanenhalsgriff angetrieben wurde.

Das Bild des Spielmanns ist klug gewählt, da gerade die Spielleute weit herumkamen, ein subtiler Hinweis darauf, dass die europäische Folklore selbstverständlich durch Kulturaustausch entstanden ist. Es scheint, dass Hindemith letztlich alte Volkslieder gegen die Nazi-Ideologie des Völkischen zum Einsatz bringen wollte. Auch die Auswahl der zitierten Gesänge kann als Kritik am NS-Staat gelesen werden: Im ersten Satz erklingt der Rhythmus eines Trauermarsches und das Lied "Zwischen Berg und tiefem Tal", ein Abschiedsgesang. Der langsame Mittelsatz zitiert aus dem Lied "Nun laube, Lindlein laube" eine Stelle, die in der Vorlage die Worte "nicht länger ich’s ertrag" hat. Das Fugato-Thema basiert auf dem Lied "Der Gutzgauch auf dem Zaune saß": Mit Gutzgauch ist ein Kuckuck gemeint, der Vogel, der seine Eier in die Nester kleinerer Vögel legt und damit deren Nachkommen dem Tod preisgibt. Die Bezüge der Vorlage im abschließenden Variationssatz "Seid ihr nicht der Schwanendreher?" sind dagegen unklar. Womöglich ist mit dem Schwanendreher der fahrende - und letztlich heimatlose - Spielmann selbst gemeint, der seine Leier dreht. 

Die Uraufführung fand am 14. November 1935 in Amsterdam statt, mit dem Concertgebouworkest unter Willem Mengelberg und Hindemith als Solist. Im folgenden Jahr spielte er es in mehreren europäischen und amerikanischen Städten. Der Dichter Ezra Pound hörte Hindemith auf der Wiener Biennale und schrieb anschließend: „In dieser Art von Musik ist niemand, und am wenigsten sein großer Zeitgenosse Strawinsky, mit Hindemith vergleichbar. Aus der Führung der Bratsche wachsen alle großen Orchesterklänge heraus, der Komponist ist wie in den Königreichen der Natur durchtränkt vom Wesen des Zellwuchses. Von den ersten Zellen des Wurzelstocks bis zum letzten Blatt der Baumkrone… der Schwanendreher ist natürlich in seiner Lebhaftigkeit. Dieses neue Werk von Hindemith kann man als Maßstab aller modernen Musik verwenden.“

Ein Mitschnitt aus der Frankfurter Alten Oper vom 14. Dezember 2012 erwartet Sie heute, Antoine Tamestit musiziert mit dem hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von Paavo Järvi:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd