Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
"Ballett im Advent" heißt es heute und an den kommenden drei Adventswochenenden. Los geht es mit einem Klassiker: Schwanensee op. 20 von Peter Tschaikowsky.
Mit den Mitteln des klassischen Tanzes erzählt "Schwanensee" die Geschichte von Prinz Siegfried und seiner Liebe zu der verzauberten Prinzessin Odette, die in Schwanengestalt gefangen ist. Bald Schwan, bald Mensch ist es ihre Bestimmung, Gegenstand der Phantasien des unglücklichen Prinzen zu sein. In der Interpretation des Choreographen Patrice Bart ist es Siegfrieds Mutter, die ihren Sohn abgöttisch liebt und alle Fäden seines Schicksals in der Hand hält. Ohne Skrupel manipuliert sie seinen Freund Benno und benutzt Premierminister Rotbart als Erfüllungsgehilfen. In Anlehnung an die Epoche der Romanows im russischen Zarenreich macht sich in dieser Inszenierung eine beklemmende Untergangsstimmung breit, die von der unguten Mischung aus emotionaler Kälte und Dekadenz geprägt ist. Zuflucht findet der junge Prinz in der Begegnung mit den Schwänen.
Die faszinierende Wirkung der mächtigen Vögel kommt in den groß angelegten Schwanenbildern des Balletts zum Ausdruck, die choreographisch von den archaischen Flugformationen und ihrer natürlichen, zugleich unwirklichen Schönheit inspiriert sind. Mit den Tutus der Tänzerinnen, die das weiße Federkleid der Tiere nachempfinden, sind diese imposanten Szenen zum Inbegriff des klassischen Balletts geworden.
Zum Mythos geworden ist "Schwanensee" aber auch wegen der Musik von Peter Tschaikowsky, der den gegensätzlichen Stimmungen ihren unverwechselbaren Klang verleiht: Sei es die Sehnsucht, die Prinz Siegfried und Odette zueinander finden lässt, oder der trügerische Glanz der Ballszenen, in denen der ganze Hofstaat wie im Rausch der verführerischen Odile verfällt, die als Doppelgängerin Odettes den Prinzen zu dem tragischen Schwur verleitet, mit dem er seine aufrichtige Liebe verrät.
Heute ist es unvorstellbar, dass "Schwanensee" für Tschaikowsky zur größten Enttäuschung werden sollte: Die Moskauer Uraufführung fiel 1877 komplett durch. Erst 1895 sorgten die Ballett-Visionäre Marius Petipa und Lew Iwanow in ihrer Deutung für die unsterbliche Verbindung von Pracht und Virtuosität sowie lyrisch-elegischem Ausdruck. Beide Elemente manifestieren sich in den weiblichen Hauptpartien: Odile, der schwarze Schwan, eine Verkörperung der machtvoll-verführerischen, extrovertierten Frau. Odette, der weiße Schwan, als poetisch überhöhter Ausdruck introvertierter weiblicher Zartheit und Verletzlichkeit. Dazwischen die Liebe Siegfrieds, der im entscheidenden Moment versagt und alles zerstört.
Dass in Tschaikowskys sinfonischer Musik vielfach tänzerische Elemente vorkommen, wurde bereits zu seinen Lebzeiten diskutiert und wird für den Zuhörer im Konzert immer wieder erfahrbar. Nicht von ungefähr griffen viele Choreografen des 20. Jahrhunderts wie George Balanchine, Kenneth MacMillan und John Cranko für ihre Choreographien auch auf seine Instrumental- und Orchesterwerke zurück. Umso mehr mag es aus heutiger Sicht überraschen, dass die Musik zu "Schwanensee" von vielen Kritikern nach der Moskauer Uraufführung am 20. Februar 1877 als "einförmig und langweilig", ja als "blass und äußerst monoton" empfunden wurde. "Für Musiker", so war zu lesen, "ist sie (die Musik) vielleicht eine interessante Sache, aber für das Publikum ist sie trocken." Tschaikowsky hingegen hatte vor der Arbeit an "Schwanensee" bereits drei Sinfonien und andere Orchesterwerke geschrieben und brachte diese Erfahrungen - und auch diesen musikalischen Anspruch - mit in die Arbeit am Ballett ein.
1997 hatte die Choreographie von Patrice Bart, die auf Marius Petipa und Lew Iwanow basiert, an der Berliner Staatsoper Unter den Linden ihre Premiere, die Inszenierung ist bis heute noch dort zu sehen. In den Hauptpartien sind Steffi Scherzer (Odette / Odile), Oliver Matz (Prinz Siegfried), Bettina Thiel (Siegfrieds Mutter / Die Königin), Torsten Händler (Rotbart) und Jens Weber (Benno von Sommerstein) zu sehen, es tanzt das Ballett der Deutschen Staatsoper Berlin, die Staatskapelle Berlin wird geleitet von Daniel Barenboim:
Ihnen allen ein schönes 1. Adventswochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler
Die Handlung:
Akt 1
Prinz Siegfried feiert im Schlosspark Geburtstag. Am Vortag erinnert ihn seine Mutter daran, dass am Tag darauf der Hofball stattfindet, auf dem er sich seine Braut wählen muss. Der Prinz setzt sich ab, von Melancholie ergriffen. Über ihm sieht er weiße Schwäne vorbeiziehen und er beschließt, zur Jagd zu gehen.
Akt 2
Ganz in der Nähe des Schlosses erscheint im Mondlicht tanzend ein Schwanenmädchen. Der Prinz hat seine Armbrust schon fast angelegt, als das Schwanenmädchen zur Schwanenkönigin wird und vor ihn tritt. Die Prinzessenmutter klärt den jungen Siegfried über die Prinzessin auf: Ihr Name ist Odette, der Zauberer Rotbart hat sie in einen Schwan verwandelt. Erst der, der sie wirklich liebt, kann sie von Zauber erlösen. Odette und der Prinz verlieben sich ineinander, doch wird das Paar von Rotbart belauscht.
Akt 3
Der Tag des Hofballs ist angebrochen, Siegfried soll eine Entscheidung treffen, welche Braut er möchte. Doch erscheint ein unbekannter Gast auf dem Fest: Rotbart, der an seiner Seite die wunderschöne Odile hat. Odile ist Odettes negatives Ebenbild, doch nicht weniger schön und verführerischer, was Siegfried jedoch nicht weiß. Er hält um ihre Hand an. Voller Triumph verlassen Rotbart und Odile das Fest, während Siegfried verzweifelt zum Schwanensee läuft.
Akt 4
Je nach Inszenierung variiert der letzte Teil. Als der Prinz am See ankommt, bittet er Odette um Verzeihung. Diese vergibt ihm. Rotbart sendet eine große Welle aus, die Siegfried droht zu ertränken. Je nach Aufführung stirbt einer der beiden, beide oder sie leben zusammen bis an ihr Lebensende.