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19.05.2023 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 479

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

heute erwartet Sie wieder einmal ein Kernstück des sinfonischen Repertoires: Die Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 73 von Johannes Brahms.

Wer Mitte des 19. Jahrhunderts in Wien als Komponist erfolgreich sein wollte, musste zunächst an Beethoven vorbei. Nachdem der Komponist mit seiner Neunten einen Gipfel der Sinfonik erreicht hatte, wurden viele nachfolgende Kollegen von einer Blockade befallen, wenn es um jene neuerdings so repräsentative Gattung ging. Johannes Brahms ging das noch täglich so, als er längst ein berühmter Mann mit einer repräsentativen Wohnung am Wiener Karlsplatz war und im Musikverein ein- und ausging. Erst 1877 hatte er sich endlich zu seiner ersten Sinfonie durchgerungen, ein Werk, das seinen Schöpfer so lang beschäftigte wie kaum ein anderes Werk.

Innerhalb von wenigen Monaten im Sommer 1877 komponierte Johannes Brahms seine zweite Sinfonie, als der Komponist zum ersten Mal in Pörtschach am Wörthersee einen Sommerurlaub verbrachte. Dies war offensichtlich ein inspirierender Ort: "Da fliegen die Melodien, dass man sich hüten muss, keine zu treten", scherzte Brahms zufrieden. Der Grund für diesen für Brahms ungewöhnlich kurzen Zeitraum war gewiss das Gefühl einer „künstlerischen Befreiung“, das sich nach dem jahrelangen Ringen (insgesamt waren es 23 Jahre!) um seine Erste einstellte. Nun konnte er sich als souveräner Sinfoniker behaupten, der sich zwar bewusst mit dem Erbe Beethovens auseinandersetzte, jedoch mit einer eigenen musikalischen Sprache. Brahms' Zweite wird als optimistisches Gegenstück zur ernsten ersten Sinfonie gesehen. Noch vor der Uraufführung feilte Brahms intensiv an der Blechbläser-Instrumentation der beiden Ecksätze und gestaltete sogar die Streicherbegleitung in der Coda des ersten Satzes neu, wie dem Autograf zu entnehmen ist. Auch nach der umjubelten Uraufführung waren die Selbstzweifel des Komponisten noch nicht restlos verschwunden. Zudem verwirrte er Verleger sowie Kritiker mit Kommentaren wie: „Die neue Sinfonie ist so melancholisch, dass Sie es nicht aushalten. Die Partitur muss mit Trauerrand erscheinen.“

In diesen Äußerungen des Komponisten steckt sicherlich eine gehörige Portion Mystifizierung. Dennoch ist die Betonung der melancholischen Aspekte nicht ganz unberechtigt. Bei genauerer Betrachtung erweist sich das Werk als durchaus nicht unproblematisch. So ist beispielsweise der lange erste Satz nicht durchgehend heiter, sondern voller harmonischer und kontrapunktischer Verwicklungen und Kontraste. Auch die Instrumentierung des tiefen Bläserregisters mit drei Posaunen und Tuba, anstelle einer Bassposaune, bewirkt eine dunkle Stimmung. Brahms setzte die Tuba bereits in seinem Requiem immer dort ein, wo von den letzten Dingen die Rede ist.

Schon kurz nach der Premiere wurde Brahms' zweite Sinfonie mit Beethovens "Pastorale" verglichen - sehr zur Freude des Publikums, dem aus der Musik "Blauer Himmel, Quellenrieseln, Sonnenschein und kühler, grüner Schatten" entgegen töne, wie ein Freund an Brahms schrieb. Bestimmt ein Grund, weshalb die Zweite seit ihrer erfolgreichen Uraufführung am 30. Dezember 1877 als Brahms‘ beliebtestes sinfonisches Werk gilt. Selbst der berühmte (und gefürchtete) Kritiker Eduard Hanslick schrieb nach einer Wiener Aufführung: "Sie gehört allen, die sich nach guter Musik sehnen, mögen sie die schwierigste fassen oder nicht."

Vier Aufführungen der Zweiten stelle ich Ihnen heute gerne zur Auswahl - zunächst der Mitschnitt des Konzerts anlässlich des 60-jährigen Bestehens des Israel Philharmonic Orchestra am 26. Dezember 1997, es dirigierte Zubin Mehta:

www.youtube.com/watch

Die Staatskapelle Berlin musizierte 2018 unter der Leitung von Daniel Barenboim alle Brahms-Sinfonien im Kirchner Cultural Centre Buenos Aires. Bei der Zweiten brach der Beifall schon einen Akkord zu früh im Saal los:

www.youtube.com/watch

Dirigenten-Legende Carlos Kleiber führte Brahms' Zweite am 6. Oktober 1991 mit den Wiener Philharmonikern im Wiener Musikverein auf, das komplette Konzert (mit Wolfgang Amadeus Mozarts Sinfonie Nr. 36 C-Dur KV 425, der "Linzer" Sinfonie) sehen Sie im folgenden Link:

www.youtube.com/watch

Wer die erste und zweite Brahms-Sinfonie direkt miteinander vergleichen möchte: Im folgenden Link sind beide zu erleben mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Leonard Bernstein, aufgezeichnet im Oktober 1981 (Nr. 1) und September 1982 (Nr. 2) im Wiener Musikverein:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd