Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
heute erwartet Sie wieder einmal ein Stück, das eher zu den Raritäten im Konzertsaal zählt: Die Sinfonie Nr. 1 E-Dur von Hans Rott.
Unter Kennern gilt Hans Rott als verkanntes Genie der Spätromantik. Der österreichische Komponist war einer der wichtigsten Schüler Anton Bruckners, der ihm eine große Zukunft voraussagte. Doch das Schicksal meinte es nicht gut mit dem hochbegabten Tonschöpfer, dessen visionäre Klänge am Wiener Konservatorium seiner Zeit Befremden auslösten. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, setzte er alles auf ein Staatsstipendium, um das er sich mit seiner Sinfonie bewarb. Als er sie dem Kuratoriumsmitglied Johannes Brahms vorlegte, erteilte dieser dem Bruckner-Schüler eine harsche Abfuhr - mit verheerenden Folgen für Rotts labile Psyche: Wenig später versuchte er auf einer Bahnfahrt mit Waffengewalt einen Mitreisenden davon abzuhalten, sich eine Zigarre anzuzünden, da er überzeugt war, Brahms habe den Waggon mit Dynamit präpariert. Die Reise endete in der Niederösterreichischen Landes-Irrenanstalt, wo Hans Rott 1884, nach mehreren Selbstmordversuchen im Alter von 25 Jahren an Tuberkulose starb.
Rotts Kommilitone Gustav Mahler, der später als Begründer einer neuen Sinfonik an der Schwelle zur Moderne Berühmtheit erlangte, wusste um die Größe des eigenwilligen Klangpoeten. Er soll gegenüber der Bratschistin Natalie Bauer-Lechner über Rott gesagt haben: “Was die Musik an ihm verloren hat, ist gar nicht zu ermessen; zu solchem Fluge erhebt sich sein Genius schon in dieser ersten Sinfonie, die er als zwanzigjähriger Jüngling schrieb und die ihn - es ist nicht zu viel gesagt - zum Begründer der neuen Sinfonie macht, wie ich sie verstehe.”
Rotts erste Sinfonie hat eine seltsam schwebende Gestalt. Sie wirkt wie eine verheißungsvolle, ins Rauschhafte gesteigerte Wanderschaft in bislang noch unentdeckte Gefilde. Die großzügigen Gesten, die bebenden Klänge und die feinfühlige Melodik erinnern an Gustav Mahler. Doch Rott schuf das Werk, bevor Mahler mit seinem sinfonischen Erstling begonnen hatte. Dass Brahms das Nebeneinander von "Schönheit" und "Trivialität" in Rotts Sinfonie beanstandete, verwundert kaum. Doch genau diese gebrochene Ästhetik zwischen Schmerzensschrei, Naturidylle und feierlichem Hymnus muss es gewesen sein, die Mahler nie vergessen konnte.
Hans Rott komponierte dieses Werk in den Jahren 1878 bis 1880. Über 100 Jahre vergingen, bis sich die Möglichkeit eröffnete, den hohen musikalischen Rang dieses Werks zu ermessen. In den 1980er Jahren entdeckte Paul Banks in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek die Partitur von Rotts erster Sinfonie. Der britische Musikwissenschaftler witterte das Potenzial der Komposition, bearbeitete die Partitur und machte sich für eine Aufführung stark. 1989 wurde die Sinfonie in Cincinnati/Ohio vom dortigen Cincinnati Philharmonia Orchestra uraufgeführt. Seitdem ist der Komponist in der Musikwelt kein Unbekannter mehr. Doch ist die Aufmerksamkeit, die sein Werk bislang erfährt, immer noch weit davon entfernt, seiner künstlerischen Größe gerecht zu werden.
Unser heutiger Mitschnitt kommt aus Paris und entstand am 13. April 2018 im Auditorium de la Maison de la Radio. Es spielt das Orchestre philharmonique de Radio France unter der Leitung von Constantin Trinks:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler