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05.09.2022 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 374

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

Klavieretüden können für manchen (unfreiwiligen) Zuhörer zur Plage werden; wenn aber solche Übungsstücke auch für den Konzertsaal taugen, sind sie ein Genuss. Heute stehen die 12 Etüden op. 10 von Frédéric Chopin im Mittelpunkt.

Die 12 Etüden, komponiert zwischen 1829 und 1836, sind nicht nur Übungsstücke, sondern poetische Meisterwerke. Sie bilden einen Zyklus, der vor allem in Bachs Präludien aus dessen "Wohltemperierten Klavier" sein Vorbild hat. Wohl niemand zuvor hatte technische Übungsstücke komponiert, die gleichzeitig einen derart hohen musikalischen Rang besaßen. Chopins Etüden sind spannungsgeladene Charakterstücke, geschrieben für den Konzertsaal. An diesen anspruchsvollsten Werken der Klavierliteratur ist schon so mancher Pianist sogar im Konzertsaal verzweifelt gescheitert.

Während einige Chopin-Etüden zyklisch und zusammenhängend komponiert wurden und direkt aneinander anschließen, gibt es auch einzelne Werke, die der geschäftstüchtige Komponist als Widmungsstücke schrieb und gleich in mehreren Ländern gegen gutes Honorar veröffentlichte. Als Opus 10 hat Chopin dann 12 dieser Werke 1833 zum Druck zusammengefügt. Bedarf für solch musikalisches Material war durchaus da, der Markt für Klavierübungen wuchs im 19. Jahrhundert immens.

Zu den berühmten "Lieferanten" für diese Art von Literatur zählten zum Beispiel auch die Komponisten Muzio Clementi, Carl Czerny, Ignaz Moscheles oder Friedrich Wilhelm Kalkbrenner. Doch kann man in den vergleichsweise einfachen Etüden-Werken dieser Komponisten kaum Vorbilder für die Chopinschen Etüden erkennen. In jeder einzelnen Nummer seines Opus 10 behandelt Chopin eine technische Spezialität, die in so anspruchsvoller, ja extremer Ausprägung in der Literatur für das Instrument Klavier bis dahin nicht bekannt war.

Auch wenn Chopin mit seinem Opus 10 die neue Gattung der Konzertetüde geschaffen hatte, behielt er bei allen technischen Schwierigkeiten die didaktische Absicht im Blick. So lotet der Großteil der Etüden das geschmeidige Ausdehnen einer oder beider Hände aus, Chopins Fingersätze hierzu sind eher als unorthodox zu beschreiben.
Mit gewagter Chromatik, vielen überraschenden Wendungen und meisterhaft gestalteten Schlusstakten ergeben sich Ausdruckserweiterungen, die immer wieder farbkräftige Charakterbilder malen. Manche Etüden erhielten mehr oder weniger treffende Beinamen.

Am bekanntesten und somit als „Dauerbrenner“ zu bezeichnen ist wohl die „Revolutionsetüde“ Nr. 12, in deren stürmischem Wüten Robert Schumann die Auflehnung der Polen gegen die Russen zu hören meinte. Die Nr. 5 wird (fast) nur auf schwarzen Tasten gespielt. Bereits 1934 wurde in dem Chopin-Film „Abschiedswalzer“ die Etüde Nr. 3 zur Schnulze „In mir klingt ein Lied“ verkitscht - und auch ein tschechischer Schlagertenor entdeckte dieses Lied für sich:

www.youtube.com/watch

Seit einigen Jahren bin ich ein großer Fan von Jan Lisiecki. In seinem aktuellen Recital-Programm, das ich im Juni in Berlin erleben konnte, kombiniert er Chopins Etüden mit einigen seiner Nocturnes. Einen kompletten Mitschnitt von Chopins Opus 10, aufgezeichnet 2013 in Paris, können Sie mit diesem großartigen Pianisten im folgenden Link erleben:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd