Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
der Aschermittwoch liegt hinter uns, wieder einmal sind wir in der Passionszeit angekommen. In den Wochenend-Ausgaben stelle ich Ihnen ab heute in den kommenden Wochen unter dem Titel "Letzte Werke" Stücke vor, die jeweils in der Endphase der Komponisten entstanden und zum Teil auch unvollendet geblieben sind. Den Auftakt macht heute Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 10, von der nur der erste Satz, Adagio, von Mahler vollständig überliefert wurde.
Als Todkranker trat Gustav Mahler im April 1911 die Heimreise von seinem Engagement bei den New Yorker Philharmonikern an. Nach vergeblicher ärztlicher Behandlung in Paris kehrte er im Mai nach Wien zurück, wo er schließlich in seinem 51. Lebensjahr starb. Mahlers abergläubischer Versuch, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen, indem er "Das Lied von der Erde" bewusst nicht als Sinfonie gezählt hatte, sollte nicht fruchten. Auch er kam wie Beethoven, Schubert und Bruckner nicht über die bedeutungsvolle Zahl Neun hinaus: Seine Sinfonie Nr. 10 blieb Fragment.
Doch dieses Adagio ist so vollkommen, dass man eine Absicht hinter der fragmentarischen Gestalt vermuten könnte. Mahler hatte hier die Tür zur Atonalität mit einem markerschütternd dissonanten Akkord weit aufgestoßen. Die Integration von banalen, volksmusikhaften Elementen, die sonst durchaus Bestandteil seines Stils gewesen war, vermied er hier allerdings weitgehend. Dieses Adagio ist die Essenz spätromantischer schmerzvoller Schönheit: Ein Gesang der Liebe und der Klage in nie nachlassender emotionaler Intensität und todestrunkener Melancholie. Hier spiegelt sich nicht nur die eigene Sterblichkeit, sondern auch Mahlers verlorene Liebe. Der Sommer 1910 war vom rapide sich verschlechternden Gesundheitszustand des herzkranken Mahler und von einer schweren Ehekrise überschattet: Alma Mahler hatte sich während eines Kuraufenthalts in den jungen Architekten Walter Gropius verliebt. Die Affäre kam nach längeren Beziehungsproblemen nicht unerwartet und traf Mahler doch so tief, dass er sich sogar bei Sigmund Freud auf die Couch legte. Das Manuskript der Zehnten, die in dieser Zeit entstand, ist voller verzweifelter Randkritzeleien Mahlers: "Für dich leben! Für dich sterben! Almschi!" – "Der Teufel tanzt es mit mir" – "Dein Wille geschehe!" oder "Leb wohl, mein Saitenspiel!" Vier Sätze skizzierte er in unterschiedlicher Ausführlichkeit, doch nur das Adagio brachte er in einen fast vollendeten Zustand.
Erst Jahre später gab Alma Mahler die Skizzenblätter frei, 1924 erklang erstmals das Adagio, später folgten verschiedene Rekonstruktionsversuche. Alma Mahler bat nach dem Tod ihres Mannes mehrere namhafte Komponisten, die zehnte Sinfonie zu vollenden, darunter Arnold Schönberg und Dmitri Schostakowitsch. Doch erst Ernst Krenek, damals Almas Schwiegersohn, übernahm die Aufgabe - oder zumindest einen Teil davon. Der erste Satz der Sinfonie, das Adagio, lag als einziger in aufführbarer Partiturform vor. Zumindest zu einem bedeutenden Teil fertig orchestriert war auch der dritte der fünf geplanten Sätze des Werks - ein kurzes Intermezzo mit dem Titel "Purgatorio". Krenek stellte Partituren dieser beiden Sätze her, und in dieser zweisätzigen Form kam die Zehnte am 12. Oktober 1924 unter Franz Schalk in Wien zur Uraufführung. In der Folge wurde das Adagio verschiedentlich aufgeführt - nicht jedoch das "Purgatorio", das sich aufgrund seiner Kürze und, allerdings nur scheinbarer, Beziehungslosigkeit zum Rest des Werks nicht durchsetzen konnte. Und die anderen Sätze blieben unaufgeführt - was sich auch in den nächsten Jahrzehnten nicht ändern sollte.
Zu Gustav Mahlers 100. Geburtstag im Jahr 1960 bereitete der englische Musikwissenschaftler Deryck Cooke für die BBC eine Sendung über die Zehnte vor, die auch Musikbeispiele enthalten sollte. Beim Studium des 1924 veröffentlichten Faksimiles mit allen fünf Sätzen geriet Cooke jedoch vollständig in den Bann des Werks und arbeitete eine spielbare Partitur der Sinfonie aus, wobei ihn der vor dem Krieg nach England immigrierte Komponist Berthold Goldschmidt unterstützte. In fast vollständiger Form kam die Zehnte bei einem von der BBC übertragenen Gesprächskonzert am 19. Dezember 1960 zur Aufführung. Alma Mahler wechselte mehrmals ihre Meinung über das Vorhaben, doch nachdem sie ein Band mit der Rundfunksendung gehört hatte, gab sie kurz vor ihrem Tod Cooke die Erlaubnis zur vollständigen Ausarbeitung der Zehnten. Am 13. August 1964 gelangte sie im Rahmen der BBC Proms unter Berthold Goldschmidt zur Uraufführung.
Seitdem hat sich Cookes Version von Mahlers Sinfonie Nr. 10 durchgesetzt - auch wenn Cooke keineswegs der Einzige blieb, der sich mit dem Werk auseinandersetzte. Was Cookes Arbeit so seriös macht, ist, dass er eben nie eine regelrechte Vollendung der Zehnten angestrebt hat, sondern lediglich eine Aufführungsfassung von Mahlers kompositorischen Skizzen zu diesem Werk. Das sollte sich auch jeder, der sich mit dieser Arbeit beschäftigt, vor Augen bzw. Ohren halten. Wieviel Mahler, hätte er länger gelebt, an seiner Zehnten noch geändert hätte, kann niemand wissen. Und auch wenn der gesamte Verlauf der Sinfonie anhand der Skizzen abgelesen werden kann, musste Cooke doch an vielen Stellen die Instrumentation, oft auch den Kontrapunkt und die Harmonik, ergänzen. Dies tat er jedoch auf denkbar uneigennützige und uneitle Weise - ohne seine eigene Persönlichkeit auch nur anklingen zu lassen. Und als Blick in die musikalische Werkstatt des Genies Mahler ist die Bekanntschaft mit Cookes Rekonstruktion der Zehnten unverzichtbar.
Der selbstkritische englische Musikologe gab sich mit dem Erreichten aber keineswegs zufrieden, sondern mühte sich bis zu seinem Tod 1976 um Verbesserungen seiner "Aufführungsversion". Die letzte (dritte) Fassung erschien postum 1989. Die Dirigenten dankten es ihm: Riccardo Chailly, Michael Gielen, Daniel Harding, Eliahu Inbal, James Levine, Wyn Morris, Gianandrea Noseda, Simon Rattle, Kurt Sanderling und Mark Wigglesworth haben auch im CD-Angebot die Cooke-Version inzwischen zum Regelfall gemacht. Besonders Sir Simon Rattle ist eine Art Spezialist für Mahler/Cookes Zehnte geworden: Er hat sie unzählige Male im Konzertsaal aufgeführt und sowohl die zweite wie die dritte Version auf CD festgehalten - mit all der Ausdrucksvielfalt, Überzeugungskraft und Detailliebe, die nur aus dem innigen Umgang mit einem Werkentstehen können.
Unser heutiger Mitschnitt kommt aus dem Amsterdamer Concertgebouw, Yannick Nézet-Séguin dirigierte Mahlers Zehnte 2016 in der Fassung von Deryck Cooke, es spielt das Rotterdam Philharmonisch Orkest:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler