Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
heute kommen die Freunde der Klaviermusik auf ihre Kosten: In meiner Studienzeit habe ich 1997 in der Kölner Philharmonie meinen ersten Klavierabend mit Daniel Barenboim erlebt - ein für mich unvergessliches Konzert, insbesondere wegen des zweiten Teils nach der Pause, in dem der erste Band der Préludes von Claude Debussy auf dem Programm stand.
Wenn vierundzwanzig Stücke unter dem Namen Préludes veröffentlicht werden, dann drängt sich der Vergleich mit Chopin geradezu auf; wie jeder vernünftige Mensch bewunderte auch Debussy die Musik Chopins und widmete 1915 seine Études dem Andenken des polnischen Komponisten. Aber der Umstand, dass jedes der Préludes Debussys einen eigenen Titel trägt (der allerdings jeweils erst am Schluss und nicht am Anfang steht), rückt sie möglicherweise eher in die Nähe der Charakterstücke Schumanns oder Griegs - beides Komponisten, für die Debussy eine Vorliebe hatte.
Trotzdem sind die Unterschiede ganz offenkundig. Es gibt bei Debussy keine übergreifende Thematik, wie bei Schumanns Carnaval oder seinen Kinderszenen; genauso wenig schwenkt der Komponist die nationalistische Fahne, wie etwa Grieg. Diese Préludes sind vielmehr „Szenen aus meinem Gefühlsleben“: Szenen, die der Komponist entweder in Wirklichkeit, auf Bildern oder Postkarten gesehen oder von denen er sich nach der Lektüre von Büchern oder Zeitungen in seiner Phantasie ein Bild gemacht hatte. Aber wie immer bei Debussy wird das Persönliche zum Allgemeinen und Idealen überhöht: Wir haben es bei dieser Sammlung nicht mit einer Sinfonia domestica zu tun, und Szenen von Debussys Tochter Chouchou in der Badewanne bleiben uns ebenfalls erspart.
Es scheint, als habe Debussy für manche der Stücke des ersten Bandes bereits 1907 Skizzen angefertigt. Die Datierungen auf den vollendeten Autographen von neun der Préludes zeigen jedoch, dass er zwischen Anfang Dezember 1909 und dem 4. Februar 1910 auf Hochtouren arbeitete. Am nächsten Tag schrieb er an seinen Verleger, dass dieser Band fertig sei, und schon am 14. April war der Druck abgeschlossen. Zu den einzelnen Stücken des ersten Bandes finden Sie nähere Erläuterungen am Ende dieser Ausgabe.
Unser heutiger Interpret ist Arturo Benedetti Michelangeli. Die Attribute, die ihm, seinem Auftreten und seinem Musizieren galten, gingen weit auseinander. Der Perfektionist, das Tastengenie - Alfred Cortot hatte in ihm die Wiedergeburt eines Franz Liszt gesehen - oder doch eher der allem und jedem gegenüber distanziert auftretende, in sich gekehrte, unberechenbare Pianist mit einer Weltkarriere, um den sich Legenden rankten. Michelangeli war das ganze Gegenteil eines extrovertieren Tastenlöwen. Sein Streben nach Genauigkeit und Werktreue, sein zwanghafter Perfektionismus, in dem er dem kanadischen Pianisten Glenn Gould nicht unähnlich war – all das war mit der großen Geste des gefeierten Virtuosen nicht vereinbar. Gleichwohl unterrichtete er andere Pianisten, die inzwischen ebenfalls Weltruhm erlangten, wie Martha Argerich oder Maurizio Pollini.
Immer mehr war das Klavierwerk Claude Debussys für Michelangeli zum Schwerpunkt seines pianistischen Schaffens geworden. “Diese Musik war von Anfang an meine Musik.”, sagte er später. Die Reaktion der Fachpresse war überwältigend: Michelangelis Debussy sei gleichzeitig stark atmosphärisch und kristallklar, schrieb die Zeitschrift "Grammophone": “Er scheint für jede Note den logischen, musikalischen Ort und das Gewicht entdeckt zu haben: Das Ergebnis ist die stärkste, farbenfrohste, musikalischste und poetischste Debussy, die Sie jemals von einem Pianisten gehört haben.”
1978 spielte Michelangeli Debussys ersten Band der Préludes in einem Pariser Studio vor laufenden Kameras:
Wer noch mehr über den ersten Band von Debussys Préludes erfahren möchte, dem sei die Dokumentation von Paul Smaczny ans Herz gelegt: In dem Film "Entre Quatre-Z-Yeux" (1999) spielt Daniel Barenboim das erste Buch der Péludes in einer einfühlsamen, träumerischen Visualisierung. Regisseur Paul Smaczny verwendet Architektur, alte Fotografien, einen Tänzer und Bilder der Natur, um an das persönliche und musikalische Umfeld des Komponisten zu erinnern. Daniel Barenboim teilt mit dem Zuschauer seine Sicht auf Debussys Préludes:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler
Zum ersten Band der Préludes
Der erste Band beginnt in der Welt des antiken Griechenlands, die im Vergleich mit den turbulenten Zuständen, welche im Paris der Vorkriegszeit herrschten, für Anmut und Stabilität stand. Es ist nicht sicher, woher die Inspiration zu "Danseuses de Delphes" stammte: Vielleicht war es eine Skulptur, die Debussy im Louvre gesehen hatte, oder eine von ihm im Museum von Delphi gesehene Darstellung einer Gruppe Priesterinnen der Diana. Debussy gehörte zwar keiner Religionsgemeinschaft an, war aber mit Sicherheit auf einer gewissen Ebene offen für das „Heilige“.
Voiles kann man sowohl mit „Schleier“ als auch mit „Segel“ übersetzen. Laut einer Aussage der Witwe des Komponisten aus dem Jahr 1924 ist die zweite Variante richtig. Debussy stellt hier zwei seiner bevorzugten „unakademischen“ Tonleitern gegenüber - unakademisch in dem Sinne, dass sie in den gängigen französischen Musiktheoriebüchern der Zeit normalerweise nicht vorkamen: Zwei Passagen in Ganztonharmonik umschließen sechs Takte Pentatonik - weit und breit kein einziger Halbton.
Die vollständige Textzeile, welcher der Titel des dritten Stückes entnommen wurde, lautet „Le vent dans la plaine suspend son haleine“ („Der Wind auf der Ebene hält den Atem an“), was Debussy darstellt, indem er das musikalische Material plötzlich zurückzieht, so dass nur ein murmelnder Hintergrund aus Sechzehnteln übrigbleibt. Die drei jähen Ausbrüche in der Mitte des Stückes sind daher umso beeindruckender. Auch das vierte Stück wurde durch eine Textzeile inspiriert, und zwar aus Baudelaires "Harmonie du soir", einem Gedicht, das Debussy bereits 1889 als Lied vertont hatte. Das musikalische Material wird hier vom Intervall der Quarte durchdrungen, zuerst aufwärts, dann abwärts, und durch Taktlängen, die zwischen 5/4 und 3/4 schwanken, wird eine schwebende Atmosphäre erzeugt. Die Klänge und Düfte lösen sich am Schluss zu den Rufen entfernter Hörner auf.
Von "Les collines d’Anacapri" soll Madame Debussy gesagt haben, es sei lediglich ein „souvenir de Rome“ („eine Erinnerung an Rom“). Dies könnte sich also möglicherweise auf Debussys Zeit in der Villa Medici während der 1880er beziehen, wenngleich die Insel Capri 200 Kilometer weiter südlich liegt; er sollte Rom erst im Jahre 1914 wiedersehen. Welche Inspirationsquelle diesem Prélude auch zugrunde liegen mag - dieses Stück führt das Element des Vulgären in die Préludes ein, nämlich eine Serie populärer Lieder, die in einem triumphalen, lichten Schluss kulminieren.
Mit "Des pas sur la neige" vollziehen wir den Schritt von der Wirklichkeit ins Imaginäre. Stechende jambische Rhythmen scheinen jede Bewegung, ja fast die Zeit zu zerstören. Es entsteht ein Bild physischer und spirituellen Verzweiflung, aus der Debussy keine Hoffnung des Entrinnens bietet, symbolisiert durch den hohlen Schlussakkord mit einem Abstand von fast vier Oktaven zwischen den beiden Händen.
Das siebte Prelude malt ein Bild von Gewalt, wie sie selten in Debussys Musik zu finden ist - mit Anweisungen wie strident („grell“), angoissé („verängstigt“), incisif („schneidend“) und furieux („wütend“). Dies kann man nicht mehr als Impressionismus bezeichnen (wenn Debussy denn wirklich einer solchen Kategorien zugeordnet werden kann), sondern vielmehr als Expressionismus, und das Stück entstand ein Jahr vor Bartóks Allegro barbaro und zwei Jahre vor Prokofjews Toccata. Der Titel "Ce qu’a vu le vent d’ouest" („Was der Westwind sah“) entstammt Hans Christian Andersens Erzählung "Der Garten des Paradieses", aber da diese Geschichte nicht einen Hauch von Gewalt enthält, ist zu vermuten, das Percy Bysshe Shelleys "Ode to the West Wind", die Debussy in der französischer Übersetzung gelesen hatte, als Parallelquelle diente. Das Stück ließe sich kaum besser als mit Shelleys Vers „the tumult of thy mighty harmonies“ („der Tumult deiner gewaltigen Harmonien“) beschreiben.
Madame Debussy merkte zwar an, daß sich "La fille aux cheveux de lin" auf ein Gedicht von Leconte de Lisle bezog, sie sagte aber des weiteren, „es ist da noch etwas anderes, viel klarer, viel reeller, viel weniger literarisch, was ich nicht zu Papier bringen kann“. Und zum Schluss sagte sie zu ihrem Gesprächspartner, dies sei nur „unter uns“. Demnach zu urteilen scheint eine distanzierte, rückgratlose Interpretation hier fehl am Platz, und auch das Originalgedicht enthält die Zeilen „Ich will dein Flachshaar küssen / Und den Purpur deiner Lippen drücken“.
Die nächsten beiden Préludes zeigen zwei Beispiele dafür, wie Debussy versuchte, der oft mühsamen Wirklichkeit des Paris des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zu entfliehen. In "La sérénade interrompue" führt er uns in fremde Länder, und zwar nach Spanien, einem Land nicht nur der Gitarren, sondern auch der doppelten, gleichzeitigen Gedankenströme. "La cathédrale engloutie" dagegen beschwört ein sehr genaues Bild der laut bretonischer Legende in den Fluten versunkenen Kathedrale von Ys herauf. Eine Oper zum gleichen Thema, "Le roi d’Ys" von Édouard Lalo, einem Komponisten, den Debussy sehr bewunderte, war im Mai 1888 an der Pariser Opéra-Comique uraufgeführt und in nur knapp über einem Jahr hundertmal gespielt worden. Debussy muss sie gesehen haben, und mit Sicherheit schätzte er das, was Steven Huebner als „Lalos scharfes harmonisches Vokabular und allgemeine Vermeidung von "Füllstoff‘ sowie Lalos Image als einsamer Reisender“ bezeichnet hat. Wenn dann noch die Möglichkeit, durch Wasser erklingende Kathedralenglocken zu vertonen, hinzukommt, so ist der Reiz des Stoffes durchaus verständlich.
Die letzten beiden Préludes des ersten Bandes haben einen fröhlicheren Grundton. Puck ist das Geschöpf Shakespeares, und wahrscheinlich hat ihn Debussy, in einer von Arthur Rackham illustrierten Ausgabe aus dem Jahr 1908 kennengelernt. In "La danse de Puck" wird Pucks Luftakrobatik zunächst von Trompeten- und Hornrufen unterbrochen, mit denen sie dann später verschmilzt. Die „Minstrels“ des letzten Prélude waren auf der Promenade vor dem Grand Hotel im englischen Eastbourne, wo Debussy und seine zweite Frau im Jahre 1905 einen Teil des Sommers verbracht hatten, zu sehen und hören gewesen. Der Komponist behandelt die „vulgären“ Elemente auf verschiedene, immer raffinierte Art und Weise, indem er etwa plötzliche Tonartwechsel oder eine „spöttische“, auf Ganztonakkorden basierende Passage einsetzt. Diese beiden letzten Stücke musste Debussy bei der Uraufführung als Zugabe wiederholen.