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07.06.2022 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 335

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

zum heutigen Pfingstsonntag darf es gerne festliche Musik von Johann Sebastian Bach sein: "Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten", die Kantate zum 1. Pfingsttag.

Die bereits 1714 in Weimar komponierte Pfingstkantate BWV 172 hat Bach in Leipzig mehrfach wieder aufgeführt und umgearbeitet sowie von C-Dur nach D-Dur versetzt. Dass Alfred Dürr daraus auf eine besondere Wertschätzung des Werkes durch den Komponisten schloss, erscheint angesichts seiner musikalischen Qualität verständlich. Das Libretto wird aufgrund stilistischer Analogien dem Weimarer Hofdichter Salomo Franck zugewiesen, dessen Kantatentypus sich auch im geringen Gewicht rezitativischer Anteile in dieser durch die Aufeinanderfolge von drei Arien sehr sanglichen Kantate widerspiegelt.

Der Anfangssatz ist sonnig und überschäumend, das Ensemble in drei "Chöre" geteilt, der eine mit Trompeten, der andere mit Streichern und der dritte mit einem vierstimmigen Chor. Der Verzicht auf hohe Blasinstrumente lässt die Textur ungewöhnlich offen wirken, und wunderbar ist das spannungsvolle Aufbranden, wenn die Stimmen zweimal auf einem Septakkord pausieren, um "seligste Zeiten" zu verheißen. Für den Mittelteil, wenn die Trompeten verstummen, gestaltet Bach ein hinreißendes Stück imitierender Polyphonie, eine Fuge, die keinen richtigen Kontrapunkt enthält, sondern die Stimmen im Abstand von drei, zwei, drei und zwei Takten einsetzen lässt. Zweimal webt er ein verschlungenes Netz aus Klängen - eine vierfache, über die Taktstriche hinaus gedehnte Engführung - und lässt vor unserem geistigen Auge das elegante Maßwerk jener "Tempel" erstehen, zu denen Gott unsere Seelen bereiten will.

Jesu Abschiedsworte aus dem Tagesevangelium (Johannes 14, 23) sind als Rezitativ für Bass gesetzt (Nr. 2) und leiten zu einer Arie über, die wie eine Fanfare zu Ehren der Heiligen Dreieinigkeit wirkt: drei Trompeten, eine dreiteilige Form, ein Thema, das sich in Terzschritten voranbewegt, und eine dreifache Anrufung des "großen Gottes der Ehren". Es ist auch ein überwältigendes Paradestück für die erste Trompete, von der verlangt wird, fünfundvierzig aufeinander folgende Sechzehntel zu bewältigen, dreimal natürlich und in hohem Tempo. Wenn damit beabsichtigt war, das "Brausen vom Himmel als eines gewaltigen Windes" oder "die Zungen zerteilet, als wären sie feurig" der Lesung für den Tag (Apostel 2, 1–13) darzustellen, so findet die im Text enthaltene Anspielung auf Pfingsten noch deutlicher in der sich anschließenden zarten Tenorarie Ausdruck, die aus einer sanften, nahtlosen Melodie für unisono geführte Violinen und Bratschen ohne offenkundige Anziehungskraft erwächst und träumerisch auf das "Seelenparadies, das Gottes Geist durchwehet" verweist. Im Gegensatz zum Brausen des gewaltigen Pfingstwindes wird uns hier der Augenblick gegenwärtig, als Gott "machte den Menschen und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nasen". Wieder sind Symbole für die Dreieinigkeit vorhanden: eine dreiteilige Form, ein Dreiertakt, eine arpeggierte Basslinie, die in Terzschritten ansteigt, und schließlich die dreifache Wiederholung einer wogenden Figur, die Gottes schöpferischen Atem zum Ausdruck bringt. Trug der Ton dieser Kantate in dem festlichen Eingangschor noch "öffentlichen" Charakter, so wird er mit jedem Satz persönlicher, definiert Etappen (gekennzeichnet durch eine in Terzschritten absteigende Modulation) in der Beziehung, die sich zwischen Gott und Mensch entwickelt und schildert seinen Einzug in unsere "Herzenshütten".

Der Tröster, dessen Nahen der Tenor ankündigt, nimmt nun mit der Seele das Gespräch auf, und ihr Dialog (Nr. 5), abgefasst in einer unverhohlen erotischen und pietistischen Sprache, ist ein musikalisches Symbol für das "Innewohnen" und die Führung, die der Gläubige in seiner Seele erfährt. Es ist ein reich verziertes und sinnliches Stück, die beiden Stimmen umschlingen einander über dem ostinatoartigen Part des obligaten Cellos, dem Bach eine vierte Stimme hinzufügt, und die Oboe spielt eine verzierte Version des Pfingstchorals "Komm, heiliger Geist". Dieser ist so tief in das Stimmgefüge eingebettet, mit den Melodielinien der beiden Sänger so stark verflochten und durch Bachs Fiorituren so sehr verändert, dass nur der aufmerksamste Zuhörer imstande gewesen wäre, ihn zu herauszuhören und seinen Spuren zu folgen. Dennoch ist dieses, mit seiner filigranen Polyphonie und ornamentverkrusteten Choralmelodie so komplex erscheinende Duett recht geradlinig angelegt (dreiteilig natürlich!). Auf einen Appell an den "sanften Himmelswind" folgt eine Modulation in die Molldominante, die diese Vereinigung mit der Aufforderung besiegelt, den "Gnadenkuss" entgegenzunehmen, und dann noch einmal im dritten Abschnitt, wenn er vollzogen ist: "Ich bin dein, und du bist mein!". Die vierte Strophe von Philipp Nicolais herrlichem Choral "Wie schön leuchtet der Morgenstern", mit einem aufstrebenden Fauxbourdon der ersten Violine, und die Rückkehr zum Anfangschor beschließen die Kantate.

Drei Mitschnitte stelle ich Ihnen gerne zur Auswahl - der erste kommt aus der Reformierten Kirche Trogen in der Schweiz und wurde dort am 25. Mai 2007 aufgezeichnet. Es singen und musizieren Eva Oltivànyi (Sopran), Markus Forster (Altus), Bernhard Berchtold (Tenor), Raphael Jud (Bass) sowie Chor und Orchester der Johann Sebastian Bachstiftung St. Gallen unter der Leitung von Rudolf Lutz:

www.youtube.com/watch

Der zweite Mitschnitt stammt vom 15. Mai 2021 aus dem Forum am Schlosspark Ludwigsburg, die Mitwirkenden sind Dorothee Mields (Sopran), Alex Potter (Altus), Benedikt Kristjánsson (Tenor), Tobias Berndt (Bass) sowie die Gaechinger Cantorey unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann:

www.youtube.com/watch

Und zuletzt eine Aufführung der Pfingstkantate aus der Stiftskirche Melk aus dem Jahr 2017 mit Michael Schade (Tenor), Günther Groissböck (Bass), dem Tölzer Knabenchor und dem Concentus Musicus Wien unter der Leitung von Stefan Gottfried:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen wünsche ich frohe Pfingsten und grüße Sie herzlich aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd