Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
wieder neigt sich ein Kirchenjahr dem Ende entgegen - am kommenden Sonntag wird in den Gottesdiensten der Verstorbenen gedacht. Die heutige Ausgabe stellt daher ein eher unbekanntes, aber bemerkenswertes Requiem in den Mittelpunkt: Paul Hindemiths "When Lilacs Last in the Dooryard Bloom'd" - A Requiem "For those we love", kurz auch "Flieder-Requiem" genannt.
Genau genommen ist das Requiem auf den Tod gleich zweier amerikanischer Präsidenten komponiert: Hindemith schuf es im Jahre 1946 unter dem Eindruck des Todes von Franklin D. Roosevelt. Walt Whitman wiederum verfasste den von Hindemith zugrunde gelegten Text "When Lilacs Last in the Dooryard Bloom'd" (Wenn Flieder im Garten wieder blüht) auf den Tod von Abraham Lincoln. Lincoln starb zur Zeit der Fliederblüte, die auch heute noch ganz Washington in ein atemberaubendes Blütenmeer verwandelt. Es gibt drei Symbole in dem Stück: den Flieder, die Drossel, die ein Klagelied singt und den Venusstern, der quasi mit dem Tod von Lincoln gefallen ist.
Walt Whitman, glühender Anhänger und Zeitgenosse Lincolns, ist bis heute in den USA ein populärer Dichter. Der Text mag dem Publikum auch den Zugang zur Musik Hindemiths erleichtert haben. Er beschreibt den Trauerzug, in dem Lincoln von Washington nach Illinois gebracht wurde und dabei in langsamem Tempo eine Reihe von Bundesstaaten durchquerte. Dies wird wunderbar in Hindemiths Musik übertragen, das Werk beginnt mit einem Trauermarsch und endet in einer großen Fuge, die die Schönheiten des Landes beschreibt. Paul Hindemith hatte Nazi-Deutschland enttäuscht den Rücken zugewandt und sich danach gesehnt, sich mit jenem Land zu identifizieren, das ihm Zuflucht bot. Als Professor in Yale und der Sommerakademie Tanglewood fand er rasch Anerkennung, der Kompositionsauftrag für das Requiem bedeutete ihm viel. Kurz vorher bekam er die amerikanische Staatsbürgerschaft, die er bis zu seinem Lebensende behielt.
Das Requiem ist jenen gewidmet, "die wir lieben", wie es in der Unterzeile heißt. Damit geht Hindemith weit über die beiden Präsidenten und auch über die Toten von Bürger- und Weltkrieg hinaus, die sich mit der Amtszeit von Lincoln und Roosevelt verbinden. So bezieht er den in Whitmans Text thematisierten Frieden und die Verbrüderung der Feinde auf den ausgehenden Krieg und drückt seine Verzweiflung und Anteilnahme über das Schicksal der Juden während der NS-Zeit aus. Musikalisch ist das Werk geprägt von lyrischen Stellen und - als Kontrast dazu - Passagen, die den Tod als großen Herrscher beschreiben, an dem niemand vorbeikommt. Die Uraufführung erfolgte 1946 in New York, die selbst angefertigte deutsche Fassung kam erstmals 1948 in Perugia zur Aufführung.
Einen Konzertmitschnitt aus dem Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt aus dem Jahr 1988 habe ich für Sie ausgewählt - es singen und musizieren Graciela Araya, Siegfried Lorenz, der Rundfunkchor Berlin und die Dresdner Philharmonie unter der Leitung von Johannes Winkler:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler