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09.05.2023 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 470

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

ein Abschiedswerk aus England erwartet Sie in der heutigen Ausgabe: Das Violoncellokonzert e-Moll op. 85 ist das letzte vollendete von Edward Elgars großformatig-sinfonischen Werken, das von Tragik und Abschiedsstimmung gekennzeichnet ist.

Edward Elgar hatte es geschafft. Seine Kompositionen wurden europaweit aufgeführt, er war Professor in Birmingham, 1904 wurde er sogar zum Ritter geschlagen. Trotzdem blieb er im Grunde seines Herzens eine traurige Seele. Die Jahre um 1917 waren eine Zeit, in der ihn zusätzlich zum Kriegsgeschehen auch noch private Sorgen quälten: Seine geliebte Frau ist schwer krank, Freunde sterben, es ist Krieg. Die schöpferische Arbeit am Cellokonzert beginnt im März 1918. Elgar hatte sich einer schmerzhaften Mandelentzündung unterziehen müssen; der Überlieferung gemäß bat er eines Morgens vom Krankenbett aus um Stift und Papier und notierte das Eröffnungsthema des ersten Satzes. Von der bevorstehenden Vollendung des ganzen Werks berichtet der Komponist brieflich im Juni 1919; ein erste Test-Aufführung im häuslichen Kreis fand, mit dem Komponisten am Klavier, am 5. Juli statt; im Sommer des Jahres legte der Komponist letzte Hand an die Komposition. Vom ersten melodischen Einfall bis zur abgeschlossenen Partitur vergingen etwa eineinhalb Jahre: Das Werk entwickelte sich quasi in aller Ruhe. Was Alice Elgar, die Gattin des Komponisten, als „a flawless work“ - ein makelloses Werk - bezeichnete, ist also in seiner vollendeten Gestalt das Ergebnis eines ausgedehnten Reifungsprozesses.

Ein auffallend "herbstlicher", elegischer Zug charakterisiert dieses Konzert; von Elgars nach außen hin selbstbewusster, klangmächtiger sinfonischer Sprache ist hier kaum mehr etwas zu vernehmen. Die Instrumentierung ist im Vergleich zu den Vorkriegswerken nun deutlich zurückgenommener und transparenter. Wie in einem Schwanengesang scheint Elgar seine persönliche Trauer über das offensichtliche Ende seiner viktorianischen Epoche in Töne gefasst zu haben.

Die Uraufführung fand am 27. Oktober 1919 statt, in einer Besetzung, die des führenden Komponisten im British Empire eigentlich hätte würdig sein müssen: Solist war der renommierte Cellist Felix Salmond, der bereits die letzten Stadien der Komposition als Test-Cellist begleitet hatte; er wurde begleitet vom London Symphony Orchestra unter der Leitung des prominenten Albert Coates. Aus probentechnischen Gründen aber war das Orchester nicht ideal vorbereitet; Ernest Newman, scharfzüngiger Beobachter der englischen Musikszene und Kritiker des Observer, schäumte: „Nie hat, aller Wahrscheinlichkeit nach, ein so großartiges Orchester sich der Öffentlichkeit in so beklagenswerter Weise präsentiert“. Die Reaktionen des Publikums blieben nach der Uraufführung zunächst verhalten: Das war nicht mehr die üppige Musik des selbstbewussten Elgar der Vorkriegszeit! Das Ganze wirkte geradezu wie der Abgesang eines alten Mannes, die Farben des Orchesters waren auffällig gedeckt, und über allem schwebte der unendliche, einsame, menschliche Gesang des Cellos. Später war daher gar von Elgars „War Requiem“ die Rede. In der Tat hatte auch der Komponist selbst in seinem eigenhändig angelegten Werkverzeichnis das Wort „Finis“ hinter das Cellokonzert geschrieben, das seine letzte große Komposition bleiben sollte - als eine Art Vermächtnis all seiner Kunst.

Doch der Siegeszug des Werks war nicht aufzuhalten: Die Qualität der Komposition war trotz der unzureichenden Qualität der Uraufführung wohl erkannt worden, und die Gramophone Company fragte wegen einer Schallplattenaufzeichnung an, die alsbald umgesetzt wurde (Elgar war als Dirigent einer der Pioniere der frühen englischen Tonträgerindustrie).

Das Violoncellokonzert ist das Werk eines Meisters auf dem Gipfel seines Ruhms. Doch bekam Elgar nur wenig später zu spüren, dass die musikalische Avantgarde Europas, die sich am Geist der Roaring Twenties, an "Neuer Sachlichkeit" und amerikanischem Jazz, an Atonalität und Zwölftonmethode zu orientieren begann, einen Weg einschlug, den er mit seiner Musiksprache nicht beschreiten konnte und wollte. Obgleich seine Werke nach wie vor vom Publikum hochgeschätzt wurden, insbesondere in seiner britischen Heimat, verstummte er als Komponist. Pläne und Skizzen zu einer dritten Sinfonie, aus denen er gelegentlich am Klavier vorspielte, führten nicht zur Vollendung einer Partitur. Das Violoncellokonzert blieb sein sinfonischer Schwanengesang.
Ein halbes Jahr nach der Fertigstellung des Cellokonzertes stirbt seine geliebte Frau Alice. Ein Verlust, der Elgar so tief im Herzen trifft, dass er sich außerstande sieht, weiterhin Musik zu schreiben.

Drei Mitschnitte habe ich heute für Sie ausgewählt, zunächst Yo-Yo Ma mit dem Baltimore Symphony Orchestra unter der Leitung von David Zinman, aufgezeichnet am 11. November 1994 bei einem Gastspiel in Japan:

www.youtube.com/watch
 
Eine Aufführung, bei der ich als Zuhörer dabei sein konnte, stammt aus dem letzten Jahr. Im Rahmen des Festival Young Euro Classic gastierte am 5. August 2022 das National Youth Orchestra of the Unites States of America, kurz NYO-USA, im Berliner Konzerthaus unter der Leitung von Daniel Harding mit der Solistin Alisa Weilerstein:

www.youtube.com/watch

Und zuletzt noch ein legendärer Mitschnitt mit einer Solistin, die für viele untrennbar mit Elgars Cellokonzert verbunden ist: Jacqueline du Prés Aufnahme mit dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von Sir John Barbirolli zählt seit Jahrzehnten zu den Klassikern im Schallplattenkatalog. Vor den Fernsehkameras musizierte sie Elgars Cellokonzert noch einmal am 27. November 1970 gemeinsam mit dem Philharmonia Orchestra unter der Leitung ihres Ehemanns Daniel Barenboim:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd