Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
unser heutiges Musikstück zählt zu den Schlüsselwerken von Dmitri Schostakowitsch: Die Sinfonie Nr. 5 d-Moll op. 47.
Mit der Willkür des Totalitarismus kam Dmitri Schostakowitsch schon in jungen Jahren in Kontakt. 1936 hatte der 30-jährige Komponist zwei Jahre lang große Erfolge mit seiner Oper "Lady Macbeth von Mzensk" gefeiert, als nach einem Opernbesuch Stalins in der Prawda unter der Überschrift "Chaos statt Musik" ein Artikel erschien, der dem Werk von heute auf morgen das Genick brach. Es ist nicht ganz einfach zu beurteilen, ob seine fünfte Sinfonie daraufhin allein als ein der Rehabilitation dienendes Werk zu gelten hat. In politischen Systemen, die dem Totalitarismus nahestehen, hat man es ja bekanntlich oft mit Fake-News zu tun. Allerdings sind Schostakowitschs eigene Aussagen recht deutlich. Er nannte seine Fünfte eine "praktische Antwort eines Sowjetkünstlers auf gerechte Kritik" und gab ihr den - im Grunde alles und nichts bedeutenden - Untertitel "Das Werden einer Persönlichkeit". Zudem führte er aus: "Wie es schon richtig gesagt wurde, ist das Werden des Menschen, seine Selbstvollendung der eigentliche Gegenstand meiner Sinfonie. Ihn, den einzelnen Menschen mit all seinen Gefühlen und Zweifeln, habe ich in den Mittelpunkt meiner Komposition gestellt. Das Finale der Sinfonie bringt eine optimistische Lösung zu all den darin beschworenen, gespannten und tragischen Begebenheiten."
Klar ist auch, dass die musikalischen Mittel der Fünften etwas weniger komplex sind als in vorigen Werken. Möglicherweise entsprach Schostakowitsch damit den Ansprüchen der Machthaber. Und insbesondere der Jubel am Schluss des Werkes lässt sich trefflich als Feier des Sozialistischen Realismus deuten. Die Uraufführung geriet entsprechend als (linientreuer) Triumph.
Im Kopfsatz ist es, als habe Schostakowitsch seine persönliche Situation vertont: die von glücklichen Jugenderinnerungen begleiteten Frühlingsmonate 1937 auf der Krim und die folgende Rückkehr nach Leningrad, als er von der Deportation seiner Schwester erfuhr. Auch das Allegretto hat einen doppelten Boden. Es weht eine derbe Lustigkeit durch diesen zweiten Satz, ohne dass man auf den Einfall käme, Tanzvergnügungen fröhlicher Komsomolzen beizuwohnen. Noch weniger ließen sich an das Largo die üblichen realsozialistischen Interpretationsmuster anlegen, und die Kritik warf dem Komponisten dann auch prompt vor, ein Kolorit "des Toten und Trübseligen" gewählt zu haben. Nach dem Tiefgang der ersten drei Sätze kann das lärmende Marsch-Finale kaum ernst genommen werden. Von den Zuhörer:innen der ersten Aufführungen in Leningrad und Moskau wird berichtet, sie hätten die Parodie auf den Triumphalismus jener Tage sehr wohl erkannt.
Schostakowitsch blieb bis zu seinem Tod ein zwischen Kunstfreiheit und Regimedruck Zerrissener. 1948 verlor er in der ideologisch geführten Formalismus-Debatte seine Lehrämter. In der Folge versuchte er erneut, sich an dem sozialistischen Ideal einer klassisch-romantischen Ästhetik zu orientieren. Obwohl nach Stalins Tod 1953 eine politische Tauwetter-Periode einsetzte, welche avantgardistische Kunstbestrebungen eigentlich wieder ermöglichte, besann er sich auch danach immer wieder auf die unproblematischen, gefälligen Traditionen. Seine fünfte Sinfonie wirkt auf den ersten Blick regelkonform, doch verbirgt sich hinter der Musik eine bittere Ironie. Eine Gratwanderung zwischen scheinbarer Normerfüllung und erzwungener Heuchelei und Brechung der Vorgaben.
Meine Empfehlungen heute: Leonard Bernstein mit dem New York Philharmonic, aufgezeichnet 1979 bei einem Japan-Gastspiel in Tokio:
Sehenswert auch ein kurzer Probenmitschnitt mit dem London Symphony Orchestra, bei dem Leonard Bernstein mit diesem Stück 1967 gastierte:
DIe Berliner Philharmoniker spielten Schostakowitschs Fünfte 1993 unter der Leitung von Sir Georg Solti:
Und für alle, die noch mehr über diese großartige Sinfonie erfahren möchten, sei hier eine Folge aus der US-Serie "Keeping Score" mit Sir Michael Tilson Thomas und dem San Francisco Symphony Orchestra ans Herz gelegt. Der etwa 55-minütigen Dokumentation schließt sich noch die Aufführung der Fünften an, die am 1. September 2007 im Rahmen der BBC Proms in der Londoner Royal Albert Hall stattfand, ebenfalls mit Sir Michael Tilson Thomas und dem San Francisco Symphony Orchestra:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler