Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
von den drei Sinfonien, die Leonard Bernstein komponierte, ist eine beinahe schon ein Klavierkonzert - unser heutiges Musikstück: Die Sinfonie Nr. 2 "The Age of Anxiety".
"The Age of Anxiety" ist ein Langgedicht des britisch-amerikanischen Dichters W. H. Auden (1907-1973). Es erschien 1947 im Druck und wurde 1948 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Bernstein war nach eigenen Angaben sofort fasziniert von dem Stoff und beschloss, ihn zu vertonen. Zunächst dachte er an ein Ballett, ließ sich aber dann dazu überzeugen, die Lektüreeindrücke zu einem Werk für den Konzertsaal zu verarbeiten. Den Kompositionsauftrag erteilte Serge Koussevitzky, Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra und Bernsteins langjähriger Mentor; ihm ist die Sinfonie auch gewidmet. Das Werk entstand in den Jahren 1948/49, parallel zu einer regen internationalen Reisetätigkeit Bernsteins als Dirigent. Uraufgeführt wurde es am 8. April 1949 mit dem Boston Symphony Orchestra unter der Leitung von Koussevitzky, Bernstein selbst übernahm den Part des Solopianisten.
Zum Zeitpunkt der Uraufführung war Bernstein war 31 Jahre alt und hatte einen eindrucksvollen Aufstieg hinter sich. Als Komponist konnte er bereits auf drei große Uraufführungen zurückblicken: 1944 waren seine erste Sinfonie "Jeremiah", das Ballett "Fancy Free" und das Musical "On the Town" in New York uraufgeführt worden. Als Gastdirigent hatte er mit fast allen größeren Orchestern der USA zusammengearbeitet, ab 1947 begann mit Engagements in Europa seine internationale Dirigentenkarriere. Auch als Solopianist und Liedbegleiter war Bernstein bereits in jungen Jahren gefragt.
Bernsteins Sinfonie "The Age of Anxiety" ist mit ca. 35 Minuten Dauer ein Werk von überschaubarer Länge. Wie alle Kompositionen Bernsteins ist die Musik harmonisch zwar mit Chromatik und Dissonanzen angereichert, aber dennoch tonal und auf Dreiklangsharmonik basierend konzipiert. Farbenreiche Orchesterklänge, der fast immer unmittelbar „gestische“ Duktus der musikalischen Motive, die an vielen Stellen recht eingängige Melodik und Rhythmik sowie Einflüsse aus der Unterhaltungsmusik sind weitere wichtige Merkmale der Musik.
Formal wie gattungsmäßig ist Bernsteins zweite Sinfonie nicht leicht einzuordnen. Der Komponist bezeichnet sein Werk zwar ausdrücklich als Sinfonie, knüpft aber nicht an das romantische Ideal reiner Instrumentalmusik an. Die Besetzung sprengt den traditionellen Rahmen: Ein Klaviersolist zum Orchester. Wie in allen seinen Sinfonien befasst sich Bernstein auch hier mit der Krise des Glaubens als zentralem Thema des 20. Jahrhunderts und gibt sich dabei gleichermaßen als weltanschaulich liberaler Pazifist zu erkennen wie als „hymnensingender Gottsucher“. Gedicht und Sinfonie "The Age of Anxiety" können als Sinnbild für eine ganze Generation aufgefasst werden, die die Welt aus der Perspektive der USA nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs betrachtet: verunsichert durch die Schrecken der Shoah, geprägt von Orientierungslosigkeit nach dem Ende der Kampfhandlungen und beeinflusst durch das gesellschaftliche Klima der beginnenden antikommunistischen McCarthy-Ära.
Darüber hinaus kann der Titel aber auch auf die „Sieben Lebensalter des Menschen“ bezogen werden, denen sich der zweite Abschnitt von Gedicht und Sinfonie explizit widmet: den Entwicklungsphasen des Menschen von der Kindheit über das Erwachsenenalter bis hin zu Alter und Hinfälligkeit, mit all ihren Unsicherheiten und inneren Verwerfungen.
Im Rahmen des Leonard Bernstein Festivals, das 1986 im Londoner Barbican Center stattfand, führte der Komponist am 6. Mai seine Sinfonie "The Age of Anxiety" auf, der Klaviersolist war Krystian Zimerman:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Urlaubsgrüßen von der Nordsee
Matthias Wengler