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01.11.2023 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 548

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

Folge 549 hat sich am vergangenen Freitag vorgedrängelt - daher kommt erst heute Folge 548, die den Wesendonck-Liedern gewidmet ist. Sie stellen den Höhe- und zugleich Schlusspunkt des überschaubaren Liedschaffens Richard Wagners dar.

Die fünf Klavierlieder auf Texte von Mathilde Wesendonck entstanden zwischen November 1857 und Mai 1858 in Wagners Züricher Exil und markieren ein besonderes Kapitel in einer Biografie, der es an Besonderheiten wahrlich nicht mangelt. Wagner und seine Frau Minna waren im Mai 1849 aus Dresden über Weimar nach Zürich geflohen. Grund für die Flucht war Wagners Verwicklung in den Dresdner Mai-Aufstand, was dem Komponisten und Königlich-Sächsischen Kapellmeister eine steckbriefliche Fahndung eingebracht hatte.

In Zürich machten sie im Februar 1852 die Bekanntschaft mit dem Kaufmann Otto Wesendonck und seiner zweiten (und wesentlich jüngeren) Frau Mathilde. Das wohlhabende Ehepaar unterstützte den chronisch unterfinanzierten Wagner und ließ die Wagners ab April 1857 in einem kleinen Riegelhaus, genannt „Asyl“, wohnen, das sie in nächster Nachbarschaft ihrer herrschaftlichen Villa erworben hatten. Doch der Aufenthalt fand bereits ein Jahr später ein unschönes Ende, als Wagners Ehefrau Minna am 7. April 1858 einen vielsagenden Brief ihres Gatten an Mathilde Wesendonck abfing. Zwischen dem mittellosen Komponisten und der jungen Kaufmannsgattin hatte sich seit geraumer Zeit eine heimliche Brieffreundschaft und Schwärmerei entwickelt, die nun durch Minnas Entdeckung aufgeflogen war.

Es folgte eine Ehekrise, wenig später der Auszug aus dem „Asyl“ und im August schließlich Wagners Abreise nach Venedig. Die berühmte Beziehung zu Mathilde Wesendonck, die Wagner 1863 rückblickend als seine „erste und einzige Liebe“ bezeichnete, war mehr als nur beiläufige Tändelei. In Mathilde hatte der Komponist und Schriftsteller eine wichtige Gesprächspartnerin, wenn nicht gar Muse gefunden, mit der er sich in der überaus produktiven Zeit im Züricher Exil rege austauschte.

Hier entstanden nicht nur die vier Textdichtungen zum Ring des Nibelungen sowie die Kompositionen von "Das Rheingold" und "Die Walküre", sondern auch Libretto und Teile der Komposition von "Tristan und Isolde", in deren tragischer Liebeshandlung sich Wagners eigenes Liebesleben in gewisser Weise spiegelte. Als Zeichen seiner Verbundenheit schenkte Wagner Mathilde im September 1857 die Urschrift des Tristan-Librettos. Sie hingegen drückte ihre Zuneigung aus, indem sie ihm eine Sammlung eigener Gedichte übergab. Wagner wählte daraus kurzerhand fünf Texte aus, die er ab November 1857 als Klavierlieder vertonte.

Die Komposition schloss er im Mai 1858 ab, auf dem Höhepunkt der dramatischen Ereignisse im Hause Wagner bzw. Wesendonck. Nach seiner Abreise nach Venedig folgte dort im Oktober eine grundlegende Überarbeitung. Die Lieder zeichnen sich inhaltlich durch eine zeittypische Sehnsuchtsromantik aus, auf der Sprachebene durch ihre konsequent strophische Form, regelmäßige Reimstruktur und gleichbleibende Metrik. Auf der Ebene der Musik lässt sich eine allgemeine und explizite Nähe zur Klangwelt des zeitgleich entstandenen Tristan feststellen, die durch die Orchestrierung von Felix Mottl von 1893 - Wagner hatte lediglich das fünfte Lied "Träume" anlässlich des Geburtstages von Mathilde Wesendonck am 23. Dezember 1857 instrumentiert - noch betont wird.

In "Der Engel" stellen Wagner bzw. Mottl dem im Text thematisierten Himmelsboten und Helfer der traurigen Herzen in einem wiegenden Grundduktus die Zartheit der geteilten Streicher und die Süße einer Solo-Violine und eines Solo-Cellos zur Seite.
"Stehe Still" - eine flehentliche Bitte an das unaufhaltsame Rad der Zeit - ist im ersten Teil von erregten 16tel-Figuren geprägt. Im beruhigten zweiten Teil finden sich mit den Verszeilen „Wenn Aug' in Auge wonnig trinken, / Seele ganz in Seele versinken; / Wesen in Wesen sich wiederfindet“ textliche Vorgriffe auf das Einswerden der Protagonisten im Tristan, die Wagner auf „Seele ganz in Seele versinken“ mit entsprechend zehrender Chromatik vertont.
Im dritten Lied "Im Treibhaus" werden die Bezüge zur Oper gänzlich evident, zumal Wagner das Lied in der Unterüberschrift explizit als Studie zu "Tristan und Isolde“ ausweist. Die depressive Dunkelheit des Textes kleidet Wagner in eine schwerfällige Vorhaltsmotivik und desolat-träge Melodik, die er für den Beginn des dritten Tristan-Akts wieder aufgreift.
Mit einem Septakkord eröffnet das vierte Lied "Schmerzen", das dem allabendlichen Tod der Sonne gewidmet ist. Die Schlüsse der zweiten und vierten Strophe werden durch den gleißenden Klang von Trompeten-Fanfaren hervorgehoben.
Das letzte Lied "Träume" steht mit einer in der Tiefe pulsierenden Begleitung ganz im Zeichen der nachttrunkenen Sphäre des zweiten Tristan-Aktes und ist eine Vorstudie zum darin enthaltenen zentralen Liebesduett „O sink hernieder, Nacht der Liebe“.   

Meine heutige Empfehlung: Anne Sophie von Otter mit dem Orchestre du Capitole de Toulouse unter der Leitung von Marc Minkowski, aufgezeichnet am 26. April 2013 in der Halle aux grains in Toulouse:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd